Eschede: Bitterkeit, die nicht vergeht

Jahrestag: In den Schmerz der Angehörigen mischt sich Wut auf die Bahn.

Eschede. Gisela Angermann aus Göttingen ist daran zerbrochen, dass ihr Sohn kurz vor seinem 30.Geburtstag auf dem Weg nach Hamburg ums Leben kam. Drei Tage und Nächte wachte sie an seinem Klinikbett - bis zum Hirntod. Die Lehrerin musste in Frühpension gehen, in Kliniken behandelt werden. Bis heute nimmt sie Stimmungsaufheller.

Nicht nur die Gedanken an ihren getöteten Sohn quälen sie, auch die Frage nach Gerechtigkeit lässt ihr keine Ruhe. "Es war das Hinterallerletzte, dass sie nur das letzte Glied in der Kette rangekriegt haben", sagt Angermann mit Blick auf den Strafprozess, bei dem zwei Bahn-Ingenieure und ein Techniker des Radreifenherstellers wegen fahrlässiger Tötung angeklagt waren. Das Landgericht Lüneburg stellte das Verfahren 2003 gegen Geldauflagen ein.

101 Menschen starben am 3.Juni 1998 beim schwersten Bahnunglück der deutschen Nachkriegsgeschichte, als der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" wegen eines defekten Rades entgleiste und mehrere Waggons an einer Brücke zerschellten. Bei der Trauerfeier zum zehnten Jahrestag am Unglücksort erhoben Hinterbliebene der Opfer gestern schwere Vorwürfe gegen die Bahn. "101 Menschen sind fahrlässig, grob fahrlässig in den Tod gefahren worden", sagte der Hinterbliebenen-Sprecher Heinrich Löwen, der bei dem Unglück seine Frau und seine Tochter verlor. "Der ICE-Unfall von Eschede war kein unvorhersehbares, unerklärliches Phänomen. Es war das Ergebnis geradezu unglaublicher Fehlleistungen und Schlampereien bei der Deutschen Bahn."

Die Hinterbliebenen warten laut Löwen bis heute auf eine Entschuldigung der Bahn. Das Schmerzensgeld in Höhe von 30000 Mark, das jeder Hinterbliebene bekam, bezeichnete er als "Beleidigung" im Vergleich zu den Prozesskosten und den Vorstandsgehältern bei der BahnAG. Die Bahn habe "mit größtem finanziellen und sachlichen Aufwand" alles getan, um den Prozess gegen die Ingenieure zum Erliegen zu bringen und sich so reinzuwaschen. "Es hat teuer eingekaufte Gutachten der Bahn gegeben, die das Ganze eigentlich vernebelt haben", sagte Löwen.

Um 10.58 Uhr, dem Zeitpunkt der Katastrophe, kehrte Stille an der Gedenkstätte neben den Gleisen in Eschede ein. Der Zugverkehr wurde für einige Minuten unterbrochen, anschließend wurden vor einer Gedenktafel die Namen aller Opfer verlesen, darunter Kinder, ganze Familien, Paare auf Hochzeitsreise. Vielen der Hinterbliebenen liefen Tränen über das Gesicht. Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) lobte in seiner Trauerrede den unermüdlichen Einsatz der Helfer nach der Katastrophe. Von der Bahn war niemand vor Ort. Die Angehörigen hatten dies nicht gewünscht.

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