Eine Nacht in der Grabeskirche in Jerusalem

Unsere Autorin hat eine Nacht in der Grabeskirche am Grab Jesu Christi verbracht — und die Probleme der vielen Gläubigen erlebt.

Eine Nacht in der Grabeskirche in Jerusalem
Foto: Ulla Thiede

Jerusalem. Andrei putzt und putzt und putzt. „Hier, dieses Zeug ist für das Messinggeländer“, sagt er und zeigt ein Fläschchen mit Putzmittel. Kein gewöhnlicher Ort für einen Reinigungseinsatz: Andrei hat sich die Kalvarienkapelle in der Jerusalemer Grabeskirche vorgenommen. Das Herz der Christenheit schlägt seit 2000 Jahren hier, und nun soll das Gotteshaus für Ostern auf Hochglanz gebracht werden. Wird er die ganze Kirche putzen? Was für eine Frage!

Eine Nacht in der Grabeskirche in Jerusalem
Foto: Ulla Thiede

Die Kalvarienkapelle gehört den Griechisch-Orthodoxen, deshalb kann Andrei nur dort putzen. Was die Katholiken und die Armenier dazu sagen würden, wenn er sich in ihren Kapellen zu schaffen machte, mag er sich nicht ausdenken. Eifersüchtig wachen sechs christliche Gemeinschaften über die Grabeskirche. Es kann handgreiflich werden im Gotteshaus. Und so hüten denn die Schlüssel zum Heiligen Grab seit dem Mittelalter zwei moslemische Familien.

Einige Minuten vor 21 Uhr sind die letzten Touristen vor die Tür gesetzt worden, und dann hat ein Mitglied der Joudeh-Familie das hölzerne Doppeltor der Grabeskirche von außen abgeschlossen und die dafür benötigte Leiter durch eine Luke im Tor geschoben, wo sie ein Priester im Innern entgegengenommen hat.

Mit Andrei haben sich noch zehn weitere Pilger für die Nacht einschließen lassen, ein Brauch, der schon im Mittelalter existierte. Nur ging es damals anders an dem heiligsten Ort des Christentums zu: Zeitzeugen berichten von Trinkgelagen und Liebesspielen. Heute lautet die Anweisung für Nachtgäste: „Kein Singen, kein Schlafen, kein Kerzenanzünden.“ Noch schnell der Weg zu den Toiletten gezeigt, und dann senken sich Stille und Dunkelheit über den Felsen von Golgatha und die Kapelle mit dem Grab Jesu.

Faith, eine junge amerikanische Nonne, ist überwältigt. Gerade hat sie in der Kapelle der Katholiken eine Andacht gefeiert, während die lateinischen Gebete der Mönche im Sprechgesang aus dem Nebenraum herüberschallten. Faith ist das erste Mal in Israel und im Westjordanland. „Wir kommen gerade aus Bethlehem, es ist schwer für die Christen dort“, sagt Faith und seufzt.

Dass die Friedensbotschaft von Jesu in dieser Welt noch immer auf taube Ohren und harte Herzen stößt, zeigt sich gerade an dem Ort, wo der historische Christus wohl wirklich seine letzten Stunden erlebte und gekreuzigt wurde.

Während ihrer jahrtausendealten Geschichte ist die Stadt noch nie zur Ruhe gekommen. Juden, Babylonier, Griechen, Römer, Araber, christliche Kreuzfahrer und Türken haben wechselweise geherrscht, erobert, zerstört und wieder aufgebaut.

Andrei kommt selbst aus einer Unruhegegend: Vor einer Woche hat er im ukrainischen Odessa seine sieben Sachen gepackt und ist nach Jerusalem geflogen. Der junge Mann ist Ingenieur, aber er hat nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine seine Arbeit verloren.

Ende Mai kommen Papst Franziskus und der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel nach Jerusalem. Sie wollen in der Grabeskirche ein Zeichen der Versöhnung setzen.

Um 5 Uhr ist die Nacht vorbei. Als der griechische Diakon die Luke in der Tür öffnen will, um die Leiter durchzuschieben, bedeutet ihm der armenische Diakon, dass eigentlich er an der Reihe sei. Es geht hin und her, bis sich der Grieche durchsetzt. Religion? Politik? Eher wohl: So ist der Mensch.

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