Die Lokführer sind Opfer

Nach Selbstmorden auf den Bahnstrecken folgen häufig Alpträume und Angstattacken.

Düsseldorf. Der Tod von Robert Enke hat viel Mitgefühl ausgelöst: Was für ein verzweifelter Mensch muss der Torhüter der Nationalmannschaft gewesen sein?

Doch die persönliche Katastrophe trifft nicht nur Enkes Familie, sondern auch das Leben zweier anderer Menschen - nämlich der beiden Lokführer, die den Regionalzug steuerten, vor den sich der 32-Jährige geworfen hat. Sie und ihre Familien werden nun den Rest ihrer Tage mit diesem Trauma leben müssen.

Jedes Jahr müssen zwischen 800 und 1.000 Lokführer auf deutschen Gleisen auf entsetzliche Weise miterleben, wie ein Mensch vor ihnen auf den Gleisen steht oder liegt - in den gnädigeren Fällen ist es zu dunkel, um das Grauen quasi kommen zu sehen. Hinzugerechnet werden müssen auch jene Fälle, in denen die Lebensmüden den Aufprall des Zuges überleben - schlimm verletzt, oft verstümmelt.

Als er die Nachricht vom Freitod Enkes erfuhr, seien auch ihm die beiden Lokführer "durch den Kopf gegangen", sagt Günter Seidler. Der Medizinprofessor weiß, wovon er redet.

Als Leiter der Sektion Psychotraumatologie an der Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin der Uni-Klinik Heidelberg hat Seidler selber Lokführer behandelt, die machtlos zusehen mussten, wie ihr Zug einen Menschen tötete. Die Lokführer seien danach "meist in schlimmem Zustand und werden häufig vergessen", sagt Seidler.

Und selbst wenn sie nach psychologischer Betreuung irgendwann wieder den Führerstand einer Lokomotive oder eines Triebwagens besteigen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie das psychotraumatische, also seelisch verletzende Erlebnis bis zum Ende ihrer Dienstjahre noch einmal über sich ergehen lassen müssen.

Ein Trauma kann sich nicht nur dann herausbilden, "wenn ein Mensch in Lebensgefahr gewesen ist und Todesangst erlebt hat", sagt Seidler. Traumatisiert werden könne auch, wer hilflos Tod oder Sterben bei anderen beobachtet und dabei existenzielle Angst erlebe. Hilflosigkeit und Todesangst seien "unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass sich ein Trauma entwickeln kann". So mancher betroffene Lokführer könnte hiervon ein Lied singen, wenn ihm danach zumute wäre.

Günter Seidler kann aber noch aus einem ganz anderen Grund mitfühlen, was ein Lokführer in solch einem Fall durchmachen muss. "Ich bin selbst mal mitgefahren, um den Arbeitsplatz kennen zu lernen, als es passierte", berichtet er.

"Es ist furchtbar, wenn eine Bremsung eingeleitet wird, die Situation immer näher kommt, man kann nicht ausweichen. Es ist klar, was passieren wird, und dann der Aufprall." Seidler bittet deshalb um "Respekt vor den Lokführern, die meist schwerst belastet sind".

Mit dieser Schuld wird Enke nicht mehr leben müssen. Die beiden Lokführer hingegen werden Zeit und Glück brauchen, um mit dem Vorfall klarzukommen - und womöglich nie mehr einen Zug steuern.

Der Psychologe Steffen Fliegel von der Gesellschaft für klinische Psychologie Münster befürchtet nach dem Tod von Enke außerdem Nachahmer: "Ich sehe die Gefahr, dass es jetzt mehr Menschen tun." Fliegel geht davon aus, dass Menschen, die hin und wieder Selbstmordgedanken haben, das Geschehen nach Suiziden von Prominenten sehr genau beobachten.

"Eine wichtige Rolle spielt es, wie groß die öffentliche Anteilnahme ist", sagt der Psychologe. "Diese Menschen denken: Erst nach dem Suizid ist die Zuwendung der Mitmenschen ganz groß. Sie ziehen daraus den Schluss: Erst im Tode bin ich wertvoll."

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