Gehirn : Das Belohnungs- und Verstärkungssystem des Gehirns - Verlangen, Motivation und Suchtanfälligkeit
Die Mechanismen des menschlichen Gehirns sind äußerst komplex.
Warum stehen wir jeden Morgen auf, frühstücken und gehen zur Arbeit? Was motiviert uns dazu, uns fortzupflanzen, ein Haus zu bauen oder uns unser Leben auf jede andere erdenkliche Weise angenehmer zu gestalten? Die Antwort: Es sind die komplexen Mechanismen des Belohnungssystems im Gehirn. Das Belohnungssystem motiviert uns zum Handeln und ist damit ein wichtiger Garant für die Selbsterhaltung und somit für unser Überleben. Doch haben diese Mechanismen des Belohnungssystems auch einen gefährlichen Nebeneffekt — sie begünstigen unsere Anfälligkeit für Süchte.
1. Das neuronale Belohnungssystem im Gehirn
Dem neuronalen Belohnungssystem im Gehirn liegen komplexe Mechanismen zugrunde. Verlangen und die Aussicht auf Belohnung motivieren Mensch und Tier gleichermaßen zum Handeln. Die Entdeckung des Belohnungssystems war jedoch purer Zufall. Umso spannender und aufschlussreicher sind die Ergebnisse, die der Forschung zugrunde liegen, die auf diesem Zufall aufbaut.
1.1. Verlangen und Aussicht auf Belohnung als Handlungsmotivation
Unser Verlagen nach etwas und die Aussicht auf Belohnung treiben uns zum Handeln an.
Es gibt elementare Bedürfnisse, die alle Menschen gemein haben. Dazu zählen unter anderem Hunger und Durst. Wird der Durst gestillt oder bekommt eine hungrige Person etwas zu essen, stellt sich ein Glücksgefühl im Gehirn ein. Auch nach anderen Dingen hat der Mensch Verlangen, zum Beispiel nach Sexualität oder auch nach dem Kontakt zu geliebten Menschen. Doch auch scheinbar banale Dinge, wie ein Sprung vom Fünfmeterturm, können solche Glücksgefühle auslösen. Das ganze Leben ist normalerweise darauf ausgerichtet, dem Verlangen nachzugehen, in der Aussicht, dafür eine Belohnung zu erhalten. Sei es die Gründung einer Familie oder das Bauen eines Hauses - das Verlangen und die Aussicht auf Belohnung motivieren den Menschen zum Handeln, sodass er beispielsweise hart arbeitet, um sich seine Träume irgendwann einmal erfüllen zu können. Eigentlich geht es dem Menschen bei all seinen Handlungen darum, am Ende endlich glücklich zu sein. Die Botenstoffe, zum Beispiel Endorphine, die das Gehirn beim Empfinden von Freude ausschüttet, machen den Menschen also glücklich und lassen ihn agieren. Da diese Botenstoffe des Belohnungssystems allerdings auch dann ausgeschüttet werden, wenn der Mensch beispielsweise Drogen konsumiert oder sich dem Glücksspiel hingibt, kann statt einer gesunden Handlungsmotivation auch eine Sucht die Folge sein.
Vereinfachte Darstellung der Entstehung einer Handlungsmotivation.
1.2. Die Entdeckung des Belohnungssystems: Ein Zufall
Das Belohnungssystem des Gehirns wurde bereits im Jahr 1954 entdeckt. Diese Entdeckung ist allerdings dem puren Zufall geschuldet. Zwei Forscher namens James Olds und Peter Milner des California Institute of Technology wollten neue Erkenntnisse über Lernprozesse gewinnen und untersuchten zu diesem Zweck das Verhalten von Laborratten. Den Nagern wurde eine Elektrode ins Gehirn gepflanzt, die leichte elektrische Stromschläge abgab, um einen Reiz auf das Gehirn der Tiere auszuüben. Bei einer Versuchsratte wurde die Elektrode jedoch versehentlich in das falsche Hirnareal gestochen. Nach dem Versuch kehrte die Ratte im Gegensatz zu den anderen Versuchstieren immer wieder in die Ecke ihrer Box zurück, in der sie den Stromschlag erhalten hatte. Selbst am nächsten Tag suchte das Tier diese Ecke noch auf, anscheinend in der Erwartung, dort erneut einen Stromschlag zu erhalten. Dies machte die Forscher stutzig und sie beschlossen, weitere Experimente durchzuführen.
1.2.1. Experimente mit Versuchsratten in der Skinner-Box und die erstaunlichen Ergebnisse
Mit Hilfe von Laborratten entschlüsselten Wissenschaftler die komplexen Mechanismen des Belohnungssystems.
Um das seltsame Verhalten der Versuchsratte zu ergründen, setzten Olds und Milner verschiedene Versuchsratten nacheinander in eine sogenannte Skinner-Box. Dabei handelt es sich um eine weitgehend leere Box, die von Forschern genutzt wird, um herauszufinden, wie Tiere neue Verhaltensweisen erlernen. Die Ratte in der Box bekam wieder eine Elektrode eingepflanzt, diesmal in die Hirnregion, die die letzte Ratte dazu gebracht hatte, immer wieder zu der Ecke zurückzukehren, in welcher sie den Schlag erhalten hatte. In der Skinner-Box selbst befand sich ein Hebel, welchen die Ratte selbstständig drücken konnte. Betätigte sie ihn, so erhielt sie über ihre Elektrode jedes Mal einen Stromschlag. Der Nager brauchte einige Minuten, um den Mechanismus zu durchschauen und stimulierte sein Gehirn anschließend in regelmäßigen Abständen von fünf Sekunden. Es musste sich bei der elektrischen Stimulation also um ein angenehmes Gefühl handeln, eine Belohnung sozusagen. Die Ratten reagierten alle in ähnlicher Weise auf das Experiment. Sie verschmähten sogar das ihnen angebotene Futter, da sie viel lieber den Hebel immer und immer wieder bis zur völligen Erschöpfung drückten. Einige Versuchstiere brachen sogar zusammen, da sie, aufgrund der ständigen Betätigung des Hebels, das Trinken vergaßen.
1.3. Die Funktionsweise des mesocortikolimbischen dopaminergen Belohnungssystems
Auf der Grundlage der Versuche von Olds und Milner wurde eine detaillierte Karte des Belohnungssystems des Gehirns angefertigt. Eine Reihe von Arealen und Nervenverbindungen liegen ihm zugrunde. Der wichtigste Botenstoff des Belohnungssystems ist das Dopamin. Aus diesem Grund sprechen Forscher auch vom mesocortikolimbischen dopaminergen Belohnungssystem. Das Belohnungssystem des Gehirns ähnelt in seiner Funktionsweise einem Schaltkreis. Es muss ein Reiz von außen kommen, damit das limbische System des Gehirns reagiert. Dieser Reiz kann alles sein, wonach der Betreffende normalerweise Verlangen verspürt, wie etwa ein Stück Schokolade. Das limbische System generiert daraufhin einen Drang, welchen die Großhirnrinde dann als Verlangen erfasst. Nun übermittelt die Großhirnrinde dem Körper das Bedürfnis, dieses Verlangen zu befriedigen. Wird dem Verlangen nachgegeben und befindet sich das Stück Schokolade erst im Mund und dann im Magen, kommt der ventrale Teil des Mittelhirns ins Spiel. Die Zellen im dort gelegenen ventralen Tegmentum stimulieren zusammen mit dem Neurotransmitter Dopamin den Nucleus accumbens. Dort sitzt das menschliche Belohnungssystem.
Die Übermittlung von Botenstoffen im menschlichen Gehirn.
Das Belohnungssystem im Nucleus accumbens sendet daraufhin Botenstoffe an andere Areale des Gehirns, die für die Empfindung von Freude und Zufriedenheit zuständig sind. Unter anderem gelangt der Botenstoff auch in den Hippocampus. Die Informationen verschiedener sensorischer Systeme fließen hier zusammen und werden verarbeitet. Anschließend werden sie an den Cortex zurückgeschickt. Dem Hippocampus kommt somit eine wichtige Rolle für das Gedächtnis und auch das Lernen zu. Auf Grund dieser Funktionsweise will ein Kind, das einmal eine Süßigkeit genascht hat, diese auch immer wieder haben. Zu Letzt erreicht das Dopamin auch die Großhirnrinde.
1.3.1. Das Motivationssystem - Der Unterschied zwischen Mögen und Verlangen
Forscher waren lange der Ansicht, die Ausschüttung des Dopamins im Gehirn sei der Grund für das Glücksgefühl. Es sei also das Dopamin, was Menschen und Tiere gleichermaßen antrieb, da sie den Lustgewinn, den ihnen das Dopamin beschert, immer wieder erleben wollen. Im Jahr 1996 sorgten Studien des Neurologen Kent Berridge von der University of Michigan jedoch dafür, dass diese Theorie neu überdacht werden musste. Der Forscher zerstörte verschiedene Nervenverbindungen im Gehirn von Laborratten. Nervenverbindungen nahe dem lateralen Hypothalamus wurden durchtrennt und die Verbindungen zwischen dopaminergen Mittelhirnneuronen zum Stratium und zum Nucleus accumbens wurden unterbrochen. Die Folge war eine geringere Konzentration des Neurotransmitters Dopamin in diesen Arealen. Dadurch veränderte sich das Verhalten der Ratten. Sie hörten auf zu fressen. Das Erstaunliche war, dass die Ratten, wenn ihnen der Forscher einen Happen auf die Zunge legte, diesen dennoch verspeisten.
Die Ratte verliert die Motivation, sich selbstständig um die Nahrungsaufnahme zu kümmern.
Die Schlussfolgerung: Die Nager mögen die Nahrung zwar nach wie vor, das Verlangen, welche sie sonst zum Fressen motiviert, fehlt ihnen jedoch. Deshalb kümmern sie sich nicht selbstständig um die Nahrungsaufnahme. Es folgten weitere Tests mit gesunden Ratten, die die Ergebnisse des Forschers untermauerten. Wurden bei gesunden Tieren die dopaminergen Axonen, also die Fortsätze der Nervenzellen, im lateralen Hypothalamus stimuliert, war ein intensives Verlangen nach Futter bei den Ratten die Folge, obwohl sich ihr Lustgewinn dabei nicht steigerte.
1.3.2. Endorphin — Das körpereigene Opiat
Für das Glücksgefühl, welches bei der Befriedigung eines Verlangens entsteht, ist also nicht das Dopamin verantwortlich, wie lange angenommen wurde. Es sind vielmehr die Endorphine und andere Botenstoffe wie Oxytocin, die als körpereigene Opiate fungieren. Der exakte Wirkmechanismus der Endorphine ist bisher nicht geklärt. Es steht jedoch fest, dass Endorphine die dopaminerge Erregungsleitung beeinflussen können. Dadurch wird die Ausschüttung von Dopamin in den synaptischen Spalt verstärkt. Der synaptische Spalt bezeichnet den schmalen Zwischenraum zwischen der präsynaptischen Membranregion eines Axons und der postsynaptischen Membranregion einer nachgeschalteten Zelle.
Beim Dopamin handelt es sich um einen Neurotransmitter der Belohnungserwartung. Es ist also nicht das Stück Schokolade selbst, das das Glücksgefühl im Gehirn auslöst, sondern der Anblick der leckeren Süßigkeit aktiviert das Dopaminsystem, welches daraufhin ein tiefes Verlangen nach der Schokolade entwickelt. Wird dem Verlangen nachgegeben, reagiert das mesokortikolimbische System, welches stets dann aktiviert wird, wenn das Gehirn eine Belohnung erwartet. Es handelt sich also nicht um die Freude des Essens an sich, sondern um die freudige Erwartung, dass die Befriedigung des Verlangens nach dieser Süßigkeit Freude auslösen könnte.
2. Die Mechanismen der Motivation als Grundlage der Suchtanfälligkeit
Wie erwähnt, kann das Belohnungssystem im Gehirn durch alle möglichen Reize stimuliert werden. Dieser Ansporn, bestimmte Dinge wie zum Beispiel Essen und Trinken regelmäßig zu wiederholen, ist wahrscheinlich der Selbsterhaltung geschuldet. Die Mechanismen der Motivation können jedoch auch selbstzerstörerisch wirken, anstatt dem Selbsterhalt zu dienen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Mensch den kürzesten Weg zur neuronalen Belohnung wählt - die Droge.
2.1. Drogen und Glücksspiel als kürzester Weg zur neuronalen Belohnung
Drogen vermögen es auf unterschiedliche Weise in die komplexen Mechanismen des Belohnungssystems einzugreifen. Menschen, die Zigaretten rauchen, Alkohol trinken, Kokain schnupfen oder sich Heroin spritzen, verkürzen also den Weg zum neuronalen Belohnungssystem. Auch, wenn unterschiedliche Drogen eine Wirkung auf jeweils unterschiedliche Regionen des Lustzentrums haben, ist ihnen allen doch eins gemein: Sie sorgen dafür, dass die Zellen im Nucleus accumbens, welche Dopamin-Rezeptoren auf ihrer Oberfläche tragen, stärker und länger aktiviert werden.