Abschiedsschmerz Brexit versetzt Passagiere der Fähre Calais-Dover in Nostalgie - und Wut

Calais · Auf dem Kontinent ist es halb zwölf am späten Abend, die Fähre legt in Calais ab. Noch ist Großbritannien Mitglied der EU. Bei Ankunft des Schiffs in Dover wird es sie verlassen haben.

 Eine Fähre läuft am Morgen des 1. Februar in den Hafen von Dover ein. Großbritannien hat nach 47 Jahren als erstes Mitgliedsland die Europäische Union verlassen.

Eine Fähre läuft am Morgen des 1. Februar in den Hafen von Dover ein. Großbritannien hat nach 47 Jahren als erstes Mitgliedsland die Europäische Union verlassen.

Foto: dpa/Gareth Fuller

Dumm - einfach nur dumm: So findet Nick Schunke den Brexit. Der 37-Jährige aus Hannover nimmt in der Nacht zu Samstag die letzte Fähre vom nordfranzösischen Calais ins britische Dover und macht seinem Frust über den britischen EU-Austritt Luft: „Die Briten haben gut funktionierende Handelsbeziehungen mit dem Rest der EU, und nun werfen sie alles über Bord, um wieder alleine zu sein“, sagt er.

Schunke ist in dieser Nacht unterwegs zu seiner britischen Freundin. Auf dem Kontinent ist es halb zwölf am späten Abend, die Fähre legt in Calais ab. Noch ist Großbritannien Mitglied der EU. Bei Ankunft des Schiffs in Dover wird es sie verlassen haben - nach 47 Jahren Mitgliedschaft, so wie es eine knappe Mehrheit der Briten in dem umkämpften Referendum vor gut dreieinhalb Jahren entschieden hat.

„Meine Eltern haben für "Leave" gestimmt“ - den Austritt, erzählt der 22-jährige Brite Jamie Cunningham auf der Fähre Richtung Heimat. „Was für Idioten!“ Der Student hält das Risiko, das der Brexit birgt, für viel zu groß. „Es betrifft viele Leute, ob sie nun in Europa arbeiten oder im Vereinigten Königreich. Sie wissen nicht, was nun passiert“, sagt er. Cunningham reist viel und fürchtet, bald „jedes Mal ein Visum beantragen und es teuer bezahlen zu müssen, wenn ich eine Fähre oder einen Flug nehme.“

Auch bei anderen Fährpassagieren macht sich in dieser Brexit-Nacht Katerstimmung statt Champagner-Laune breit. „Ich finde es einfach deprimierend“, sagt der Italiener Alessio Bortone, der seit zehn Jahren in Großbritannien lebt. Der 42-Jährige ist mit einer Britin verheiratet, ihre Kinder haben den britischen und den italienischen Pass.

„Heute Nachmittag habe ich vier Grenzen überquert“, erzählt Bortone. „Von Deutschland aus bin ich über die Niederlande und Belgien nach Frankreich gefahren. Das haben wir Europäer uns aufgebaut“, sagt der Software-Ingenieur stolz. Mit dem Brexit kommt lästiger Papierkram auf den Italiener zu: Erstmals müsse er eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, sagt er. Seine britische Frau nimmt zugleich die italienische Staatsbürgerschaft an, um auch einen europäischen Pass zu haben - zur Sicherheit.

Die 90 Minuten Fahrtzeit für die 42 Kilometer vergehen wie im Flug. Schon sind die weißen Klippen von Dover in Sicht, es ist kurz vor Mitternacht britischer Zeit. Auf die Felsen wird ein Bild projiziert: „The UK has left the EU“ steht zwischen einer britischen und einer Europa-Flagge - „Das Vereinigte Königreich hat die EU verlassen.“

Für ihn persönlich ändere der Brexit nichts, sagt der Hannoveraner Schunke. „Es sei denn, ich brauche für die Reise demnächst einen Pass“, fügt der Mitarbeiter der Deutschen Bahn hinzu. Für die Fahrt über den Ärmelkanal reicht der deutsche Personalausweis vorerst aus - zumindest bis zum Ende der Übergangsfrist Ende des Jahres. Was danach kommt, weiß niemand.

(AFP)
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