Jüdische Gemeinde Wuppertaler Kirchhenkolumne: Abschiedsreden

Wuppertal · Ruth Yael Tutzinger, Ehrenvorsitzende des Gemeinderates der Jüdischen Kultusgemeinde, über das Fünfte Buch Mose - ein besonderes.

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Foto: Fries, Stefan (fri)

Was geht einem Menschen durch den Kopf, der über Jahrzehnte eine sehr schwierige Führungsaufgabe innehatte und jetzt sicher weiß, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat?

Schon mehrmals habe ich erwähnt, dass in den jüdischen Gemeinden die „Fünf Bücher Mose“ im Verlauf eines Jahres gelesen, wir sagen gelernt, werden. Am 25. September 2022 beginnt das jüdische Jahr 5783. Wir sind also seit ein paar Wochen bei dem Fünften Buch Mose angelangt. Es ist ein besonderes Buch. Mosche, der die Aufgabe übernehmen sollte, die Israeliten aus der Knechtschaft des grausamen Pharao in die Freiheit und ein eigenes Land zu führen, wehrte sich dagegen mit dem Argument, er sei kein Mensch der Worte, denn er habe eine schwere Zunge. Gott stellte ihm seinen Bruder Aharon zur Seite, der für ihn das Sprechen übernahm. Auch seine Schwester Mirjam, die ihn schon als Säugling vor dem Zugriff dieses mörderischen Pharao gerettet hatte, stand ihm als liebende Schwester, vertraute, kluge Beraterin zur Seite. Beide waren vor wenigen Wochen gestorben und Gott hatte auch Mosche unmissverständlich wissen lassen, dass seine Tage gezählt seien und auch er das verheißene Land nicht betreten werde. Alle, die mit Gottes Hilfe vor dem Pharao gerettet wurden, hatten den Zorn Gottes so sehr erregt, dass sie das verheißene Land nicht betreten sollten. Die Hebräische Bibel verschweigt nicht, dass selbst so große, bis heute verehrte Persönlichkeiten, wie Mosche, Aharon und Mirjam sich nicht immer im Griff hatten und den Zorn Gottes auf sich zogen. Sie waren herausragende Menschen, aber sie waren Menschen mit Schwächen wie Sie und ich.

Mosche wusste, dass er von seiner Führungsposition zurücktreten musste. Dieses Volk, das ihn oftmals bis zur völligen Erschöpfung gequält hatte, war ihm so ans Herz gewachsen, dass es ihm sehr schwerfiel, den Führungsstab an den jüngeren Josua weiterzugeben. Josua war im besten Mannesalter und er hatte seine Zuverlässigkeit und strategischen Fähigkeiten schon bewiesen. Vor allem aber hatte er Gottes Segen, dessen Weisungen sein Handeln bestimmten.

Als die Tage des Abschieds nahten, versammelte Mosche die in der Wüste geborene und aufgewachsene Generation. Diese Menschen, einige hatten gewiss noch mit den traumatischen Erfahrungen der Eltern zu kämpfen, hatten Unterdrückung durch einen Tyrannen und seine Knechte nicht kennengelernt. Sie waren zu geordneten Stammesverbänden zusammengewachsen. So, dass selbst der hinterhältige Seher Bileam ausrufen musste: „Wie schön sind deine Zelte Jakob, deine Wohnungen Israel.“ Als er sah, wie geordnet die Stämme sich um ihr tragbares Heiligtum gruppierten.

All diese Menschen, Männer, Frauen und Kinder, versammelte Mosche um sich und ging in langen Reden vor ihnen noch einmal die ganze Entwicklung der vergangenen vierzig Jahre durch. Er erinnerte sie daran, dass sie mit allen Generationen die Offenbarung der Gebote am Sinai erlebt und geschworen hatten, zu tun und zu hören, was der Ewige verlangte. Er ermahnte sie zum Zusammenhalt, was auch immer in der nächsten Zeit geschehen möge. Er führte ihnen alle Wechselfälle des Lebens vor Augen und bat sie immer wieder eindringlich: „Wählet das Leben!“

Das heißt, dass sich jeder Mensch jeden Tag bewusst macht, was seine Aufgabe in diesem Leben ist. Wir alle haben unterschiedliche Fähigkeiten, aber jeder ist auf seine Weise berufen, sich als Mitarbeiter Gottes zu wissen, um diese Welt zu verbessern, zu pflegen, vor Ausbeutung zu schützen. Mosche erinnerte die Eltern daran, dass sie ihre Kinder nicht vernachlässigen dürfen. Sie sollen ihre Kinder lehren und ihnen Freude am Lernen vermitteln. Er gibt ihnen viele Anweisungen, wie sie dereinst das Leben gestalten sollen, wenn sie sesshaft geworden sind. Vor allem sollen sie immer für Gerechtigkeit und Frieden in den Familien und in ihrem weiteren Umfeld sorgen. Er vergisst auch nicht, ihnen den Schutz der Natur und der Tiere ans Herz zu legen. Auch erläuterte Mosche dem Volk, welche Feste sie einst in ihrem Land feiern sollen und ermahnte die Menschen zu Dankbarkeit, vor allem auch immer wieder dazu, sich an all dem Guten zu freuen, das Gott uns jeden Tag gibt. In keinem der anderen vier Bücher wird so oft über die Freude gesprochen wie in diesen Abschiedsreden.

Natürlich ist der freie Wille des Menschen auch ein großes Thema. Mosche führte seinem Volk vor Augen, was passiert, wenn der Einzelne oder ganze Gruppen sich entscheiden, böse Reden zu führen, gar zu morden. Er machte klar, welch schreckliche Folgen Hass und unsolidarisches Verhalten nach sich ziehen. Er erwartete von seinem Volk ausdrücklich den Schutz des Fremden, der Witwe und der Waisen. Er bat, den Ägypter nicht zu hassen, denn es gab auch gute Zeiten in Ägypten, als Jakob und seine Familie vor der Hungersnot dorthin geflohen waren. Lediglich den Amalek dürfen wir hassen, der heimtückisch die wehrlosen Alten und Kinder überfiel. Mosches Herz war übervoll mit Ratschlägen und er machte klar, dass ein gutes Zusammenleben Regeln braucht. Zwei Gebete sind aus diesen Abschiedsreden ein für alle Zeiten bleibender Bestand geworden. Das Gebet „Höre Israel, HaSchem, unser Gott ist EINER“, das jeder auch säkulare Jude kennt und nie vergessen wird. Das zweite ist der Dank nach dem Essen, denn: „Du hast gegessen, bist satt geworden, hast übrig gelassen und Gott gedankt.“ Gerade schwierige Zeiten fordern uns heraus, für das Gute, das uns immer noch geschenkt wird, dankbar zu sein.

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