Kolumne Krise und Intervention 1847

Detlef Vonde über den Staat und die „Gesetze des Marktes“.

 Autor Dr. Detlef Vonde ist Historiker, ehemaliger Leiter der Politischen Runde der Bergischen VHS und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fernuniversität Hagen. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: „Auf den Barrikaden. Friedrich Engels und die gescheiterte Revolution von 1848/49“.

Autor Dr. Detlef Vonde ist Historiker, ehemaliger Leiter der Politischen Runde der Bergischen VHS und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fernuniversität Hagen. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: „Auf den Barrikaden. Friedrich Engels und die gescheiterte Revolution von 1848/49“.

Foto: hammer/Anette Hammer/Freistil Fotografi

Aktuell erleben wir in der „Corona-Krise“ eine Variante der Staatsintervention, mit zahlreichen Maßnahmen zur Steuerung eines Notstandes, der von vielen als historisch einmalig eingestuft wird. Manch besorgter Feuilletonist vermutet bereits die „Rückkehr des Sozialismus“. Dabei wird häufig vergessen, dass es seit der Entstehung des Kapitalismus immer wieder Variationen staatlicher Eingriffe in besonderen Krisensituationen gegeben hat; auch im Wuppertal um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Betrachten wir dazu eine Episode im April 1847 in Elberfeld. Dort fand man am 29. in den frühen Morgenstunden eine größere Anzahl von Maueranschlägen und Plakaten, die zu Protestversammlungen und Demonstrationen vor dem Hause eines offenbar unbeliebten Elberfelder Unternehmers aufriefen. Unterzeichnet mit dem flammenden Aufruf: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wenn er in Ketten geboren.“ Der sensible Landrat reagierte aufgeschreckt und sah „eine gefährliche Störung der öffentlichen Sicherheit“ voraus und forderte kaserniertes Militär aus Düsseldorf an. Warum diese helle Aufregung? Am 1. Mai stand in Elberfeld traditionsgemäß der sogenannte „Wohnungswechsel“ bevor. Der Tag also, an dem die Zahlung der aufgelaufenen Mieten fällig wurde, was unter den in weiten Teilen arbeitslosen Elberfeldern für beträchtliche Unruhe sorgte. Die Stimmung heizte sich auf. Sozialen „Excessen“, wie es hieß, wollte der Obrigkeitsstaat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, also militärisch, entgegen wirken. Am Ende blieben sowohl die Protestversammlung als auch befürchtete Tumulte aus. Warum? Weil eine Reihe von städtischen und privaten Maßnahmen zur Vermeidung von offenen Konflikten beigetragen hatte: Die Arbeitgeber zahlten in großem Stil Vorschüsse zu den Mieten, Zahlungsunfähige wurden in leerstehenden Häusern der Eisenbahn untergebracht, Nahrungsmittel gratis verteilt, Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung im Straßenbau eingerichtet. Die preußische Regierung machte schließlich noch eine Zusage über die stattliche Summe von 32 000 Talern als Subvention zur Beschäftigung arbeitsloser Elberfelder Weber. Hier wurden also durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen die Normen der frühindustriellen Wirtschaft außer Kraft gesetzt, um das Potenzial sozialer Proteste kurzfristig zu entschärfen.

Ungünstige Konjunktur
für Textilunternehmen

Was waren die Hintergründe? Ganz eindeutig die ökonomische und soziale Krise vom Winter 1846/47. Seit einigen Jahren herrschte im Tal eine extrem ungünstige Konjunktur für Textilunternehmen, deren Auswirkungen sich durch die katastrophalen Missernten von 1846 noch gefährlich zuspitzten: Von Woche zu Woche waren die Preise für Grundnahrungsmittel, insbesondere Brot und Kartoffeln, dramatisch gestiegen. Unternehmer ihrerseits reagierten auf den Produktionsrückgang mit der Entlassung von Webern und Arbeitern. Im Januar 1847 waren in Elberfeld bis zu 5000 Menschen arbeitslos. Das bedeutete, dass bei 46 000 Einwohnern rund ein Drittel der männlichen Bevölkerung ohne geregeltes Einkommen lebte, viele Familien nur von öffentlicher Unterstützung. Ein Indiz dafür die zusätzlichen Suppenküchen, die zwischen Dezember 1846 und Sommer 1847 gegen minimales Entgelt knapp 44 000 Portionen austeilten. Darüber hinaus erhielten rund 16 000 Bürger der untersten Steuerstufe Brotmarken, die in den Bäckereien auf den offiziellen Preis angerechnet wurden. In dieser Zeit lag das wöchentliche Existenzminimum einer fünfköpfigen Familie bei zirka vier Talern und fünf Silbergroschen. Der durchschnittliche Stundenlohn eines Fabrikarbeiters betrug zwischen neun und zwölf Pfennig. Das entsprach bei einer Sechs-Tage-Woche einem Wochenlohn von zwei Talern zwei Silbergroschen. Die Kosten für ein Brot aber lagen bei neun Silbergroschen, was einen Arbeitsaufwand von neun bis zwölf Stunden pro Brot ausmachte. Das war, am einfachen Beispiel erklärt, die soziale Lage der „kleinen Leute“. Und so schlug das Absinken der Kaufkraft durch Lebensmittelverteuerung unmittelbar wieder auf den Textilmarkt durch und forcierte weitere Absatzkrisen, Produktionseinstellungen, Entlassung von Arbeitern, Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne unter das Existenzminimum – ein fataler Kreislauf, der sich dann politisch zuspitzte, den Staat auf den Plan rief und außergewöhnliche Mittel des Eingriffs in den gerade erst „befreiten“ Markt auf die Tagesordnung setzte: Nicht zum letzten Mal in der Geschichte.

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