Wuppertaler Geschichte Die lange Stunde Null, die Seuchen und die Normalität

Historiker Detlef Vonde über Wuppertal nach dem Krieg.

 Detlef Vonde. Foto: Anette Hammer

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Foto: hammer/Anette Hammer/Freistil Fotografi

Am 15. und 16. April 1945 befreiten amerikanische Truppen von Ronsdorf aus die Stadt vom Faschismus und beendeten den Zweiten Weltkrieg in Wuppertal. Die einmarschierenden GIs erblickten dort eine gefährliche Trümmerwüste, wo einst eine blühende Großstadt stand. Der zerstörte Rest bestand aus 6,5 Millionen Kubikmetern Schutt und Ruinen, in denen noch immer mehr als 200 000 Menschen versuchten zu überleben. Zwischen den Trümmerbergen herrschte in den ersten Nachkriegstagen das blanke Chaos, ohne Orientierung, ohne Sicherheit. Die hautnahe Erfahrung des Mangels und der Einschränkung prägte das private und öffentliche Leben. Energieversorgung existierte praktisch nicht mehr, Nahrung und Trinkwasser waren knapp, das Leben im öffentlichen Raum war gleichsam abgeschafft. Ausgangssperre. Die häufig so apostrophierte „Stunde Null“, die es in Wirklichkeit als klare Wendemarke aber gar nicht gab, war eine langfristige Erfahrung des Verzichts und der Unsicherheit. Und sie betraf nicht alle gleichermaßen, die Wohlhabenden noch am wenigsten.

Der Krieg hinterließ die Stadtbevölkerung ausgebrannt, ausgebombt, ausgehungert - und vor allem krank. Dies beschreibt eindringlich der Bericht einer britischen Ärztekommission, welche die Krankenhäuser besichtigt hatte: „Fast jeder Patient hat beträchtliches Untergewicht. Die Gewichtabnahme beträgt manchmal 30 bis 40kg, verglichen mit den vor dem Krieg festgestellten Gewichten.“ Im Juni 1945 sank der Ansatz der Nahrungsmittelzuteilung für den Normalverbrauch auf 600 Kalorien täglich. Damit war gegenüber den letzten Kriegsmonaten ein Rekordtief erreicht, da noch im November 1944 der Bevölkerung 1760 Kalorien zugestanden hatten. Selbst die im Herbst 1945 eingebrachten Ernten verbesserten erst allmählich die allgemein desolate Ernährungslage; denn die Gesundheitsschäden hatten sich über Monate in der Zivilbevölkerung aufgebaut. Mangelnde Hygienemöglichkeiten und Unterernährung schufen dort vor allem die Gefahr epidemisch verlaufender Krankheiten. Jetzt kamen sie zum Ausbruch.

Die „Stunde Null“ war auch eine Zeit der Seuchen. So stieg die Zahl der venerischen Krankheiten steil an, und die mühsam eingedämmte Tuberkulose flammte erneut auf. Die zuständigen Stationen der Krankenhäuser waren alsbald überfüllt: Besonders hart betroffen Kinder und Jugendliche. In den Jahren 1945/46 verzeichnete das Wuppertaler Gesundheitsamt eine Verzehnfachung der Krankenhausaufnahmen gegenüber den Vormonaten. Die Chancen auf eine Eindämmung der grassierenden Seuche standen zunächst schlecht: die Ernährungslage, insbesondere im Hinblick auf Eiweiß und Fettstoffe, war ebenso katastrophal wie die Möglichkeiten zur effektiven Isolierung der Erkrankten begrenzt. Die schwer bombengeschädigte Großstadt hatte nur für 80 Prozent der Tuberkulösen überhaupt ein eigenes Bett. Nicht einmal ein Drittel der Betroffenen lebte unter Verhältnissen, die gerade einmal den Minimalanforderungen der Hygiene genügten. Oftmals teilten ansteckende Tuberkulöse ein Zimmer mit drei oder vier Angehörigen. Medikamente wurden zu Kostbarkeiten, die hohe Preise auf dem Schwarzmarkt erzielten. Kranke tourten von Apotheke zu Apotheke in der Hoffnung, sich noch versorgen zu können. Von Ort zu Ort entwickelte sich so ein wahrer Medikamententourismus der Verzweifelten. Häufig erfolglos. Die Apparatemedizin war zudem hoffnungslos ausgedünnt. Es fehlte an allen notwendigen Hilfsmitteln wie Röntgenapparate, Röntgenfilme oder Instrumente. In der Folge stieg die Sterberate bis 1946 dramatisch: 207 von rund 6000 erkrankten Menschen, also rund 1,8 Prozent der Stadtbevölkerung, sind in den Nachkriegsmonaten an Tbc verstorben. Die Amtsärzte der Stadt schlugen Alarm angesichts der rapide steigenden Frequenz der Seuche und der prekären Lage der medizinischen und allgemeinen Versorgung insgesamt. Die „Stunde Null“ zeigte auch in Wuppertal vor allem dies: Mit dem Ende des Krieges war das Sterben längst nicht vorbei. Mehr noch. Die Toten konnten häufig nicht einmal zeitnahe beerdigt werden, da es an Holz für die Särge fehlte, so dass sie noch 10 bis 14 Tage unbestattet liegen blieben, was in den Sommermonaten wiederum die Seuchengefahr erhöhte. Die später so apostrophierte „Stunde Null“ war kein plötzlicher Wendepunkt, sie zog sich über viele Wochen und Monate, bis allmählich das wieder einkehrte, was die Vorkriegsgesellschaft als „Normalität“ kannte. Wie diese Rückkehr allerdings zu bewerten ist, darüber streiten nicht nur Historiker.

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