Triple Menschen ohne, auf gemeinsamem oder auf schwerem Grund und Boden

Pina Bauschs zeitlose und unter die Haut gehende Stücke leben – in ihrer eigenen Compagnie und in Tänzerinnen und Tänzern anderer Ensembles.

Amy Collé und Ensemble in „Das Frühlingsopfer“. Das Stück wurde 1975 im Opernhaus uraufgeführt.

Amy Collé und Ensemble in „Das Frühlingsopfer“. Das Stück wurde 1975 im Opernhaus uraufgeführt.

Foto: Oliver Look

Das Lächeln erobert erst langsam das Gesicht, zu groß ist die Anstrengung, der Atem will sich nur zögerlich beruhigen. Doch der endlose Applaus ist stärker, überzeugt die Menschen auf der Bühne schließlich, dass sie es geschafft haben. Live auf der Bühne. Pina Bauschs zeitlose und unter die Haut gehende Stücke leben – in ihrer eigenen Compagnie und in Tänzerinnen und Tänzern anderer Ensembles. Sie selbst hatte 1997 „Das Frühlingsopfer“ als erstes Stück mit der Opéra Garnier in Paris einstudiert. Nun sind es 38 Frauen und Männer aus 13 verschiedenen afrikanischen Ländern, die das Stück zu einem gewaltigen und in vielerlei Hinsicht bewegenden Erlebnis machen. Das gilt auch für die anderen Stücke des Triple-Abends, „Café Müller“ und „Common Ground[s]“. Am Wochenende war Premiere in der Oper – ein Abend zwischen Tradition und Aufbruch, den sich die Prominenz aus lokaler Politik und Tanz nicht entgehen ließ.

Drei verschiedene Besetzungen für Pinas Markenzeichen

Es war das einzige Stück, an dem Pina Bausch in tragender Funktion auf der Bühne stand. Ein langer schlafwandlerischer Schatten, ein zaghaftes Echo des Geschehens, das sich vor ihr, zwischen den leeren Stühlen und Tischen, menschlichen Leerstellen gleich, entwickelt. Sechs Personen, die begehren, die mit geschlossenen Augen umherirren, die nicht (fest)halten können. Sich nicht und andere nicht. Die sich bewegen und nicht von der Stelle kommen, wie die Eingangs-Drehtür im Hintergrund. Gefangen in Traurigkeit, im inneren Kampf, in der Sehnsucht nach Nähe. Bedrückendes Kammerspiel, das durch die Barockmusik von Henry Purcell („Dido and Aenaeas“) noch bedrückender wird. 1978 uraufgeführt wurde „Café Müller“ zum Markenzeichen des Tanztheaters, das seit den 1980er Jahren zusammen mit „Das Frühlingsopfer“ und vergleichsweise oft aufgeführt wurde. Ein Stück über Menschen, deren Leben unerfüllt ist, die den Grund unter sich verloren haben.

 Tsai-Chin Yu (vorne) und Taylor Drury (hinten) in „Café Müller“:

Tsai-Chin Yu (vorne) und Taylor Drury (hinten) in „Café Müller“:

Foto: Bastian Hessler

Der neue Intendant Boris Charmatz will das Werk weiterentwickeln, mit anderen Tänzerinnen und Tänzern. Ihm zur Seite bei der Neueinstudierung Barbara Kaufmann und Héléna Pikon (die lange Pina Bauschs Rolle getanzt hat) und sieben Tänzerinnen und Tänzer, die ihre Rollen weitergaben. An insgesamt 18 Tänzerinnen und Tänzer, die einerseits sie selbst bleiben und andererseits die Rolle füllen sollen. Die Aufführungen in Wuppertal werden nun von drei verschiedenen Besetzungen realisiert. Pina Bauschs Figur übernehmen Taylor Drury, Naomi Brito und Emma Barrowman. Abwechselnd stolpern die Schlafwandlerinnen über die Bühne, begleitet von beklemmender Stille oder Henry Purcells „Remember me“. Die Musik wird, wie schon 2018, live gespielt: Sopranistin Ralitsa Ralinowa (vom Opernensemble als Dido) und Bass Johann Kristinsson (als Aeneas) singen einfühlsam, während Patrick Hahn das Sinfonieorchester im Graben dirigiert. Der Generalmusikdirektor meistert seine Premiere als musikalischer Begleiter des Tanztheaters hervorragend und präzise.

Sie haben gemeinsamen Grund, „Common Ground[s]“, sind geerdet. Malou Airaudo, die in der Uraufführung von „Café Müller“ mitwirkte, und Germaine Acogny, die Mutter des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes. Ihre Zusammenarbeit begann 2019 an Acognys École des Sables im Senegal, mit der sich damals die Pina Bausch Foundation zusammentat. Die großen Tänzerinnen, beide über 70 Jahre alt, erarbeiteten ein Duett, das nun den zweiten Teil des Triple-Abends ausmacht und in engem Zusammenhang mit der folgenden „Frühlingsopfer“-Aufführung steht.

Sie brauchen nicht viel: Zwei Stäbe, zwei Hocker, zwei Wannen und ihre tanzerfahrenen Körper. Gemeinsam setzen sie sich mit ihren Erlebnissen als Mütter und Großmütter auseinander – ruhig, wohlwollend, aufeinander achtend blicken sie zurück und nach vorn. Sie müssen nicht mehr kämpfen, sie sind angekommen: „What will be, will be.“

Der Arbeitsprozess ist wichtiger als das Ergebnis

Als 2019 die Foundation zehn Jahre alt wurde, initiierte Salomon Bausch das „Common Ground[s]“-Projekt, zu dem die Weitergabe des Stücks „Das Frühlingsopfer“ an ein Ensemble gehörte, das eigens dafür zusammenkommen sollte. Junge Frauen und Männer ohne klassische Tanzausbildung, die Urban Dance-, Hip Hop-, traditionelles oder zeitgenössisches afrikanisches Tanz-Knowhow mitbringen.

Hintergrund der Kooperation mit der École des Sables und dem Londoner Sadler’s Wells Theatre. Die Pandemie vereitelte eine Aufführung, im Sommer 2020 wurde kurz entschlossen eine Durchlaufprobe auf senegalesischem Strand aufgenommen. Im Herbst 2022 kam der Film „Dancing Pina“ in die Kinos, der den 30-minütigen Film mit Aufnahmen einer Aufführung von „Iphigenie auf Tauris“ des Balletts der Semper Oper Dresden kombinierte und die Zuschauer begeisterte.

Die Musik ist 110 Jahre alt, ein Schlüsselwerk der Neuen Musik, und unverändert wuchtig, gewaltig. Strawinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“ löste mit seinem wilden, aggressiven Rhythmus, seinen dissonanten Klängen samt Inszenierung bei seiner Uraufführung 1913 einen Skandal aus. Das polyatonale und orchestral wuchtige Werk setzt einen in der heidnischen Mystik beheimateten Gewaltakt in Tanz um. Eine Jungfrau soll geopfert werden, damit der Frühlingsgott versöhnt wird. Pina Bausch hat zur herausfordernden Opferthematik 1975 eine beeindruckenden Choreografie geschaffen, die um den Kampf der Geschlechter kreist. Mit mitreißenden Gruppentänzen und verlorenenen Soli auf auf schwerem Torf-Grund, die niemanden unberührt lassen. Auch die Musikerinnen und Musiker im Graben nicht, die manchmal so laut werden, dass sie das barbarisch-kultische Geschehen nicht nur spiegeln, sondern vorantreiben, verstärken. Bis mit einem heftigen Schlussakkord das ausgewählte Opfer erschöpft zu Boden sinkt.

Für Pina Bausch war der Arbeitsprozess wichtig, vielleicht wichtiger als das Ergebnis. Das Fragen und Suchen sollte nie enden – der Triple-Abend setzt dies auf beeindruckende Art und Weise fort.

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