Wuppertal in den 1950ern: Eine Stadt in den Startlöchern

Vortragsreihe: Wie Wuppertal die Depression der Kriegsjahre abschüttelte.

Wuppertal. "Wir sind wieder wer" ist der Spruch des Jahrzehnts. Ob Auto, Motor-Roller, Langplattenspieler oder Nylonstrümpfe. Produziert wird, dass die "Schwarte kracht". Wer kann, fährt in den Urlaub an die italienische Riviera. Oder er begnügt sich mit Schlagern wie etwa "Pack die Badehose ein". Die Deutschen haben Nachholbedarf, was den Spaß am Leben anbetrifft. In den 50er Jahren scheint alles möglich, Geschichte ereignet sich im Zeitraffer - auch in Wuppertal.

"Überall in der Stadt standen die Ruinen, man passierte gigantische Brachflächen und Schutthaufen", sagt Stadthistoriker Michael Okroy. Der schnelle Wiederaufbau bleibt für ihn ein Phänomen: "Der Alltag in Wuppertal war geprägt von einer enormen Willenskraft." Eine Reportage der Zeitung "Die Welt" von 1946 beschreibe es anschaulich. Sie beginnt mit den Sätzen: "So sind die Wuppertaler. Sie stecken voll Ungeduld. Sie haben die Depression der Kriegsjahre abgeschüttelt und stehen auf der Rennbahn, wie eine Mannschaft ohne Starter..."

Michael Okroy, Stadthistoriker.

Diese Aufbruchstimmung ist auch Thema der neuen Vortragsreihe "50er vor Ort", die morgen beginnt. Zu Schwerpunkten wie Architektur, Sport oder Wirtschaft der 50er Jahre in Wuppertal wird in den dazu passenden Veranstaltungsorten referiert: in der Schwimmoper, der Villa Waldfrieden, der Firma Reeder& Kamp an der Funkstraße und der katholischen Kirche Christ König. "Die Gebäude sind architektonische Meisterwerke aus den 50er Jahren. Die Vorträge direkt vor Ort zu hören - da wird Geschichte lebendig", sagt Julia Meer, Organisatorin der Reihe.

Bereits im vergangenen Jahr hatte sie mit Jennifer Abels eine Ausstellung zum Thema "50 Jahre Fünfziger" organisiert. Vorträge, Diskussionsrunden sowie eine 50er-Jahre-Party wurden begleitend veranstaltet. "Wir waren von dem Andrang sehr überrascht. Und da die 50er für uns noch lange nicht abgearbeitet waren, haben wir im März mit der Planung begonnen", erklärt Abels.

Neben der Architektur und dem Städtebau - bei dem das Haupt-Projekt die Talachse war, die aus dem Straßengewirr zwischen Barmen und Elberfeld eine einheitliche Verbindung formte - sei eines der wichtigen Themen das kulturelle Leben in den 50ern. "Denn Kultur gab es am Ende des Krieges nicht mehr", sagt Meer. Ein Begriff für zeitgenössische Kunst und Kultur musste erst wiedergefunden werden. 1949 wurde das Theater an der Bergstraße eingeweiht. Sieben Jahre später folgte die glamouröse Eröffnungsfeier des Barmer Opernhauses. Kulturell war die Stadt ganz vorn, sagt Okroy, der einen der Vorträge in der Reihe halten wird. Lange vor Pina Bausch sei Wuppertal in den 50ern wichtigste Ballett-Metropole Westdeutschlands gewesen. "Die, die das erlebt haben, schwärmen von dieser Zeit."

Für die profanere Unterhaltung zog neben den Lichtspielhäusern das 1950 wiedereröffnete Thalia Theater am Islandufer die Ausgehhungrigen an. "Es war Variete und Kino in einem. Josephine Baker, Heinz Erhardt und Louis Armstrong standen auf der Bühne." Im Anschluss ging es in eines der Nachtlokale. Der Jazz, in konservativen Kreisen noch als "Negermusik" verschmäht, trat seinen Siegeszug an. Der Existenzialistenkeller "Bohème" am Alten Markt wurde laut Okroy eine der wichtigsten Adressen des Landes.

Nicht minder viel Bewegung war im Wuppertaler Fußball, über den Peter Keller, Leiter des Sport- und Bäderamtes, referiert. Besonders das Jahr 1954 stand ganz im Zeichen des Sports: Das "Toooor" von Radio-Moderator Herbert Zimmermann beim WM-Finale gegen Ungarn ging um die Welt. Die Deutschen erlebten das Wunder von Bern - die Wuppertaler gründeten ihren WSV. "Der Vertrag wurde in der Vohwinkeler Kneipe "Haus am Kaiserplatz" unterschrieben", sagt Keller. Bald hatten "die Jungs" mehr Heimzuschauer als Schalke 04 und Dortmund. "Heute glaubt keiner, dass an die 40000 Menschen für ein WSV-Spiel ins Stadion kamen."

Und es war 1954 in Wuppertal, als ein gewisser Uwe Seeler seine große Stunde feierte - mit 17 wurde er beim Fifa-Jugend-Weltturnier vierfacher Torschütze. Auch die Steher-Weltmeisterschaft wurde 1954 im Stadion Zoo ausgetragen. Bei dem heute fast vergessenen Verfolgungsrennen von Motorradfahrern und Radfahrern waren 25 Nationen beteiligt. Keller: "Heute lockt man damit keinen mehr hinter dem Ofen hervor."

Der Glamour, die Freiheit, offen zu sein, waren in den turbulenten 50ern anziehend, sagt Okroy. Doch es gebe auch eine Kehrseite.

Das Motto lautete: "Wenn du hübsch aussiehst, immer lächelst, dann geht es dir auch gut." Hinter der Fassade habe aber oft moralischer Muff, familiäre Enge gelauert, meint auch Abels. Nach wie vor wurde das alte Rollenbild propagiert. "Doch die Frauen wollten nicht mehr die perfekte Hausfrau sein, die Männer - traumatisiert durch den Krieg - nicht die gesamte Verantwortung tragen."

Und auch Okroy nennt den Preis für all die Neuerungen beim Namen: "Der Übereifer des Wiederaufbaus diente dem Vergessen." Seinen Vortrag widmet der Historiker daher den NS-Tätern - "die relativ unbescholten davon kamen".

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