Lehrer-Tagebuch Was ein „Nutellakind“ ist und was nicht

Pädagoge Arne Ulbricht berichtet über die Offenheit von Schülern dank multikulti.

 Lehrer Arne Ulbricht.

Lehrer Arne Ulbricht.

Foto: Michael H. Ebner

1983: Nach meiner Grundschulzeit in einem betulichen Kieler Vorort finde ich mich nach den Sommerferien in einer fünften Klasse eines städtischen Gymnasiums wieder. Und ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus: Denn in meiner Klasse gibt es ein Kind mit „Migrationshintergrund“! Aylin ist Türkin und wird von der Deutschlehrerin für ihr gutes Deutsch gelobt. Nützt ihr aber nichts, sie schafft die fünfte Klasse nicht.

2020: Ich bin Klassenlehrer einer sechsten Klasse. Die Eltern kommen aus zehn verschiedenen Ländern und drei Kontinenten. Ihre Kinder sind zum überwiegenden Teil in Deutschland geboren, aber manchen hört man an, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.

Gibt es in dieser Klasse Probleme? Logisch! Sind die vielen Nationalitäten die Ursache? Nee, das Gegenteil ist der Fall. Neulich habe ich zwei Schülerinnen belauscht, wie sie sich die Begrüßung auf Italienisch und Türkisch beibrachten. Ich habe die Idee aufgegriffen und Begrüßungsfloskeln auf zehn Sprachen geübt. Die Araberin hat Hallo auf Arabisch sogar angeschrieben. Was für ein abenteuerliches Schriftbild!

Natürlich ist nicht alles rosarot. Wenn Kurden und Türken in einem Kurs sind, kann es schon mal laut werden – das habe ich in Hamburg so erlebt. Und bei manchen arabischen Rudelbildungen auf dem Pausenhof geht es manchmal darum, wer wessen Mutter beleidigt hat, was ziemlich nerven kann. Es gibt sicherlich auch Klassen, in denen es nicht zu einem fröhlichen Multikulti, sondern zu einem Clash of Cultures kommt. Das ist aber genauso wenig der Normalfall wie das „Kopftuchmädchen“, das nur mit anderen „Kopftuchmädchen“ herumhängt oder der deutsche Junge, der sich von all den „Ausländern“ bedroht fühlt. Der Normalfall ist eher Lisa. Ich wies sie zurecht, weil sie von einem „Nutellakind“ sprach. Sie verstand nicht, bis ihr ein Licht aufging. Sie sagte: „Ich habe von einem Mädchen geredet, das halt jeden Tag ein Nutellabrot isst. Und wenn sie eine dunkle Hautfarbe hätte, dann wäre es mir egal. Herr Ulbricht…“ Pause. Dann: „Ich bin so ziemlich alles, aber keine Rassistin!“ Weg war sie, und ich dachte: Meine elfjährige Schülerin ist so viel offener und toleranter als der elfjährige Schüler Arne im Jahr 1983. Und zwar nicht trotz, sondern dank multikulti!

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