Begrabt mein Herz in Wuppertal In Erinnerung an Tante Grete

Wuppertal · Unser Kolumnist denkt in seiner Kolumne über die unterschiedlichen Typen aktueller Demonstrationen nach.

 Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic.

Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic.

Foto: Joachim Schmitz

Immer wenn von Impfgegnern die Rede ist, denke ich an meine Großtante Grete. Die Schwester meines Opas erkrankte als 16-Jährige an Kinderlähmung. Im Verlauf der Erkrankung wurde ihr später ein Unterschenkel amputiert und sie bekam eine Prothese. In der Familie wurde darüber nicht gesprochen. Ich war ein kleiner Junge, vielleicht acht Jahre alt, dessen Großtante ein Bein nachzog, mehr war nicht.

Grete Zimmermann war ein fröhlicher Mensch. Auf Geburtstagen erzählte sie mir neue Witze. Nur mir. „Exklusiv!“, wie sie immer betonte. Ich versuchte mir alle zu merken, damit ich sie in der Schule weitererzählen konnte. Bei diesen familiären Zusammenkünften, an mit süßen Kuchen köstlich gedeckten Kaffeetafeln, wurde häufig auch an die nicht mehr unter uns weilenden Onkel, Neffen, Brüder oder Nachbarn gedacht, die im Krieg gefallen waren. Als Kind habe ich nie verstanden, warum jemand nicht mehr da ist, nur weil er im Krieg gefallen war. Ich bin ständig gefallen, kam aber zum Abendbrot, wenn auch mit blutigen Knien, quietschfidel und hungrig nach Hause. Zu diesem Thema habe ich Jahrzehnte später ein Lied geschrieben: „Ich bin im Krieg gefallen, da tut mir heut’ noch das Knie weh!“ (Ich habe noch CDs davon zu Hause)

Meine Großtante Grete hatte keine Kinder und war nie verheiratet. Ob sie jemals einen Partner oder eine Partnerin hatte, weiß ich nicht, glaube aber, dass sie immer alleine war, und auch nicht darüber sprechen wollte. Die Schwester meines Opas mütterlicherseits hatte eine gute Anstellung als kaufmännische Angestellte in einer Exportfirma. Sie sprach fließend Englisch und Französisch. In den Ferien bereiste sie ferne Länder. Wenn sie zurückkam, brachte sie uns Souvenirs mit: Kastagnetten aus Spanien, einen kleinen Eiffelturm nach einer Paris-Reise. Holzschuhe aus Holland, einen Sombrero aus Mexiko, eine Panflöte aus Peru. Meinem Vater brachte sie eine Krawatte aus Helsinki mit, auf der Name und Foto der finnischen Lauflegende Paavo Nurmi abgedruckt waren. Nach einer USA-Reise bescherte sie mich mit Indianerschmuck, einer Federhaube und einem Traumfänger.

Natürlich schickte meine Lieblingstante mir auch Postkarten aus allen Ländern. Alle Karten waren mit besonders schönen Briefmarken frankiert. Weil der Großtante vermeintliches Eheglück und Kindersegen versagt blieb, ging sie ganz in ihrem Beruf auf, und schmückte ihr Single-Leben mit spannenden Fernreisen, die sie in alle Erdteile führten. Ich habe mich später oft gefragt, was für ein Leben Tante Grete geführt hätte, wenn ihr die Kinderlähmung erspart geblieben wäre. Ob es besser gewesen wäre?

Allerdings ändert es nichts daran, dass ich persönlich Impfgegner für besonders egoistische Lebewesen halte. Außerdem gehen viele der Impfverweigerer zusammen mit Gegnern der einschränkenden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, Verschwörungstheoretikern und Rechtsradikalen auf Demos. Das alleine macht diese Damen und Herren für mich schon unerträglich, auch wenn einige von ihnen behaupten, sie hätten schon mehrere Bücher zum Thema „Impfen ist total doof und gefährlich“ gelesen. Wem völlig egal ist, mit welchen Leuten man zusammen auf einer Demonstration abhängt, der ist mir hochgradig suspekt. Egal, was er sonst noch top treibt.

Einer ihrer Anführer, Attila Hildmann (Ex-Maggi-Kochstudio), der verrückte Suppenkasper, der gerne in den Untergrund gehen möchte, weil er Angst vor einer Zwangsimpfung durch Bill Gates hat, obgleich man doch eher dessen Windows 10 fürchten sollte. Gott sei Dank gibt es in Wuppertal noch nicht so viele irre Gestalten, aber man muss wachsam bleiben. Meine Großtante wurde über 90 Jahre alt. Sie lebte bis zu ihrem Tod in einer großen Altbauwohnung in Wichlinghausen. Wenn ich sie besuchte, war das immer ein Stück Kindheit. Schöne Erinnerungen. Der große Flur. Alte Bilder an der Wand. Am Küchentisch gab es Kaffee und Kuchen und sie erzählte mir immer einen neuen Witz. Zum Schluss immer den gleichen. Aber das war egal.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort