Sport mit 90 Jahren: „Contenance, die Damen!“

Ein Mal pro Woche trainiert die Gymnastikgruppe des TV Friesen – die drei ältesten Sportlerinnen sind 90 Jahre alt.

Unterbarmen. "Bitte, Contenance!", ruft die Trainerin. Niemand hört’s. Der Grund: Die Sportlerinnen "töttern" miteinander. Was tun? Die Übungsleiterin klatscht kurz in die Hände. Es ist so, wie wenn die Direktorin eines Mädchenpensionats die höheren Töchter zur Nachtruhe ermahnt. Das wirkt. Sie hat Erfolg.

"Mädels, kommt mal ’rüber!" Sofort joggen die Sportlerinnen los, stellen sich im Halbkreis auf und haben nur Augen für ihre Trainerin Marlis Mühlinghaus. Was auf den ersten Blick an das Training einer Mädchen-Mannschaft erinnert, hat mit dem Sport junger Hüpfer nichts zutun.

Zur Klärung: Es ist Dienstag, 17 Uhr, in der Sporthalle am Kothen und Trainingszeit des Turnvereins (TV) Friesen - genauer gesagt: dessen Gymnastikgruppe für ältere Damen im Alter von 60 bis 90 Jahren.

Liselotte Deißmann, Trude Quinkenstein und Margot Syring sind 90 Jahre alt und sehen beneidenswert gut für ihr Alter aus. Wie sie sonst noch heißen, ist eigentlich egal, hier sind sowieso alle per Du. So ist das eben unter Sportsfreundinnen.

Als sie an diesem Abend in Turnschuhen durch die Sporthalle laufen, tragen sie türkisfarbene oder schwarze Leggings und weite T-Shirts in Weiß. Joggen sie beim Aufwärmen ein paar Runden, sieht man, was auf der Rückseite des Oberteils gedruckt steht: "Jung bleiben mit Bewegung" - das hat Potential, der Leitspruch der Omis zu werden.

Pardon, der Begriff "Omis" passt überhaupt nicht - eher "Best Ager". Hält Sport Sie denn jung? "Ja, wir sind fit - sonst wären wir nicht 90 Jahre alt", sagt Deißmann. Quinkenstein (in Sportskreisen "Quinki") nickt. Seit ihrer Kindheit treiben die Damen Sport - im TV Friesen.

Damals, 1930, warben die Verantwortlichen des Vereins in Grundschulen um Mitglieder - Deißmann besuchte die Grundschule Hesselnberg, Quinkenstein die Haspeler Schule.

Die Töchter fragten daheim um Erlaubnis, die Väter sagten ja und zahlten von da ab dem Kassierer, der damals noch von Haus zu Haus die Mitgliedsbeiträge einsammelte, jede Woche 20 Pfennig für eine Wertmarke, welche die Mädchen berechtigte, am Kurs teilzunehmen.

Und das mit sportlichem Erfolg: Quinkenstein war mit ihrer Friesen-Mannschaft drei Mal deutsche Vizemeisterin im Faustball. Außerdem trieb sie noch Geräteturnen und Leichtathletik (Fünf-Kampf) wie auch Sportsfreundin Deißmann, mit der sie 25 Mal das goldene Sportabzeichen ablegte - das letzte Mal im vergangenen Jahr auf dem Deutschen Turnfest in Frankfurt.

Aber sie sind sich einig: Mit 90 Jahren machen sie Schluss mit Wettkämpfen. Wollen Sie dann auch mit dem Sport an sich aufhören? "Nein, auf keinen Fall!" Ihr Rat, den sie auch ihren Enkeln geben: "Treibt Sport!" Nicht nur körperlich, sondern auch geistig beweglich sind sie geblieben - Trainerin Mühlinghaus legt nämlich auch Wert auf Gedächtnis- und Koordinationstraining.

Zurück zum Training. Nach dem Aufwärmen ("die Fersen an den Po" und "die Knie zur Nase") steht Selbstverteidigung auf dem Programm. Die Damen freut’s, weil es eine Abwechslung zur üblichen Tanz-Gymnastik ist.

Die fiktive Situation: Ein junger Mann will einer älteren Dame die Handtasche klauen. Was tun? Sicherer Stand - die Füße leicht versetzt, hüftbreit, aufgestellt, grimmige Mine - und laut Schreien. "Das erwartet so’n Schnösel nicht von uns Alten", sagt die Trainerin. Hilft das nicht, bleibt nur die Geheimwaffe: der Schienbeintritt, den die Damen paarweise trainieren - mal mehr, mal weniger gelingt das.

Die Trainerin korrigiert: "Lotte, die Beine nicht durchdrücken. Jutta, nicht so schnell." Dabei kommt es auch schon einmal vor, dass die eine oder andere leicht neckisch-kapriziös, aber immer noch sehr liebenswert, reagiert.

Und das ist wohl auch eine Gemeinsamkeit mit der jungen Sportlerinnen-Generation, die zeitgleich eine Etage tiefer trainiert. Aber ein Unterschied bleibt: Pubertär-zickige Mädchen "schnattern" - ältere Damen mit Lebenserfahrung "töttern" - und das auch beim Sport. Pausenlos.

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