Interview Vom Kinderheim zur Wohngruppe

Wuppertal · Interview Harald Dorau hat 23 Jahre lang die städtischen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche geleitet.

 Harald Dorau arbeitet derzeit seine Nachfolgerin Petra Müller ein.

Harald Dorau arbeitet derzeit seine Nachfolgerin Petra Müller ein.

Foto: Fischer, Andreas (f22) H503840

Gut 23 Jahre lang hat Harald Dorau die städtischen Kinder- und Jugendwohngruppen (KIJU) geleitet. Zum 1. Dezember ist er in den Ruhestand gegangen. In seiner Zeit bei der Stadt hat er fünf Oberbürgermeister und viele Veränderungen erlebt.

Herr Dorau, wie war die Situation, als Sie 1995 begannen?

Harald Dorau: Als ich in die größte Einrichtung Am Jagdhaus kam, gab es noch 43 Säuglingsbetten für Waisenkinder – diese sind heute die Ausnahme. Denn wenn beide Eltern sterben, gibt es in der Regel Familie und Freunde, die die Kinder aufnehmen. Wenn Eltern aber mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, ziehen sich häufig auch Familie und Freunde zurück.

Wie hat sich das „Kinderheim“ entwickelt?

Dorau: Als ich 1995 anfing, benötigten die Kinderheime über die Pflegesätze hinaus beträchtliche Finanzmittel. Deshalb sollte ich die drei städtischen Einrichtungen – Küllenhahn (das heutige Kinderhospiz), Vohwinkel und am Jagdhaus – in einem Betrieb konzentrieren. Damals gab es keinerlei Kostenrechnung. Petra Müller und ich haben erstmals realistische Pflegesätze anhand der tatsächlichen Kosten errechnet. So sank der Zuschussbedarf der Stadt von 1992 mit drei Millionen Mark pro Jahr auf Null seit 2004.

Gab es 1995 schon die Wohngruppen?

Dorau: Ja, aber damals wurde noch in einer Großküche gekocht und das Essen dann in Warmhaltebehältern in die Gruppen gefahren. Die Wäsche übernahm eine Großwaschküche. Heute hat jede Kindergruppe eine eigene Hauswirtschaftskraft, damit die Kinder das miterleben und lernen. Als spezielles Angebot kamen dann die Mutter-Kind-Gruppen dazu – die gibt es nicht in jeder Stadt. Dort hatten wir schon Mütter bis aus Brandenburg.

Haben sich die Familienkonstellationen verändert?

Dorau: Die einzelnen Situationen, die zur Heimerziehung führen, sind schwieriger geworden. Häufig kommen Kinder erst spät zu uns, wenn andere Hilfen ausgereizt sind. Dann brauchen sie eine sehr professionelle Betreuung. Deshalb bieten wir für jedes Kind ein maßgeschneidertes Hilfspaket an – mit Zielen und Handlungsschritten, die von unserem pädagogischen Personal, von den Eltern und von den Kindern und Jugendlichen abgearbeitet werden müssen. Das gab es früher nicht.

Wie wird entschieden, ob und wann ein Kind zurück in seine Familie kommt?

Dorau: Diese Entscheidung treffen entweder die Sorgeberechtigten in Verbindung mit Sozialarbeitern oder aber ein Gericht. Deshalb ist die Dokumentation auch immer umfangreicher geworden, weil die juristische Überprüfung immer mehr wird. Leider gibt es immer wieder auch Fälle, in denen ein Kind zurück in die Familie kommt, dann wieder zu uns, dann wieder in die Familie…

Wie sind Ihre Gruppen aufgebaut?

Dorau: Auf neun Kinder ab sechs Jahren kommen fünf Erzieher im Schichtdienst. Unser Grundsatz ist, dass die gleiche pädagogische Fachkraft, die ein Kind ins Bett bringt, auch am Morgen für die Kinder da ist. In jeder Gruppe ist eine Erzieherin – 80 Prozent unseres Personals sind Frauen – hauptverantwortlich für ein Kind. Problematisch ist da manchmal unsere Teilzeitquote von 35 Prozent; da wird es dann schwierig mit den Übergaben und Teambesprechungen.

Was ist für Sie ein Erfolg?

Dorau: Das ist sehr individuell: Bei der einen ist es, wenn sie Schule und Berufsausbildung schafft und auf eigenen Beinen steht, bei der anderen, wenn sie nicht drogenabhängig wird.

Wie kommen die Kinder und Jugendlichen zu Ihnen?

Dorau: Manche Jugendliche kommen alleine, mit ihren Eltern, oder mit ihren Sozialarbeitern zu einem ersten Gespräch. Die jüngeren Kinder (unter 14 Jahren) werden häufig von der Polizei oder von Sozialarbeitern gebracht. Schlimm sind die Situationen, wenn für ein Kind nicht schnell eine dauerhafte Perspektive gefunden wird und es dann monatelang in einer Notaufnahme bleiben muss. Babys und Kinder im Kindergartenalter werden durch das Jugendamt in der Regel sofort in Pflegefamilien vermittelt.

Finden Sie genügend Personal?

Dorau: Es ist sehr schwierig. Wir versuchen, alle Auszubildenden zu übernehmen, das klappt oft. Und uns ist eine gute Personalfürsorge wichtig. Wir haben viel Supervision und Fachberatung. Darüber stärken wir das Personal und das kommt den Kindern zugute.

Wie groß ist die Unterstützung durch die Bevölkerung?

Dorau: Sehr groß. Wir haben zum Glück Sponsoren, die uns viel ermöglichen. Früher mussten wir uns für jeden Ausflug einen Wagen leihen. Dann hat uns ein Sponsor den ersten Kleinbus gespendet. Wir wollen auch, dass jedes Kind einmal im Jahr zu einer Freizeit fahren darf. Mit den normalen Pflegesätzen ginge das gar nicht.

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