Interview „Der Sparzwang in der EU muss langsam ein Ende haben“

Wuppertal · Interview Der Linken-Spitzenkandidat für die Europawahl, Martin Schirdewan, über die Arbeit des Europäischen Parlaments.

Martin Schirdewan sieht das EU-Parlament als handlungsfähig an.

Martin Schirdewan sieht das EU-Parlament als handlungsfähig an.

Foto: Fischer, Andreas (f22)

Herr Schirdewan, wie beurteilen Sie als Europaparlamentarier die Russland/Ukraine-Krise?

Martin Schirdewan: Man kann die Dinge nicht aus der hohlen Hand beurteilen und nicht nur auf der Basis von Verlautbarungen aus Russland und der Ukraine. Grundsätzlich sind wir als Linke der Auffassung, dass solche Konflikte mit Diplomatie gelöst werden.

Wäre es angesichts der Krisen in Osteuropa und sonst auf der Welt nicht an der Zeit für eine einheitliche europäische Sicherheitspolitik?

Schirdewan: Wir erleben Aufrüstung, wir erleben die Forderung nach einer europäischen Armee, wir erleben die Aufkündigung des INF-Vertrages über nukleare Mittelstreckensysteme durch die USA mit Schuldzuweisung an Russland. Wir stehen vor einer neuen Rüstungsspirale. Dabei hat Jugoslawien gezeigt, dass auch eine einheitliche Armee keinen Krieg verhindert. Jugoslawien ist auseinandergebrochen.

Aber das Parlament kann auf all das so gut wie keinen Einfluss nehmen?

Schirdewan: Das Parlament ist einflussreicher geworden, es ist an Gesetzgebung beteiligt. Aber ich gebe zu, dass es auch ausgebremst wird, wie beispielsweise gerade bei der Digitalsteuer von drei Prozent. Der Beschluss des Parlamentes war weitreichender als der der Kommission, und dann haben Frankreich und Deutschland das im Europäischen Rat zurückgeholt und die Umsetzung auf Januar 2021 verschoben.

Nach mehr Einfluss klingt das aber nicht.

Schirdewan: Wir sprechen nicht von ungefähr von einem Demokratiedefizit in Europa. Wir fordern doch schon lange, dass das Parlament eigene Gesetzesinitiativen ergreifen kann. Bisher geschieht das nur auf Vorschlag der Kommission.

Wenn Sie mehr Macht für das Europa wollen, dann sind Sie doch sicher auch ein großer Fan von Emanuel Macron?

Schirdewan: Grundsätzlich ist Macrons Vorschlag für ein Eurozonen-Budget zu begrüßen. Aber er will die Vergabe des Geldes an Struktur- also Sparmaßnahmen knüpfen. Ich bin der Meinung, dass es mit dem Sparzwang in der EU nun ein Ende haben muss.

Dann teilen Sie die Kritik an der fehlenden Haushaltsdisziplin Italiens nicht?

Schirdewan: Zunächst muss man feststellen, dass Italien die Defizitkriterien von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes nicht reißt. Der Unterschied ist, dass die Vorgängerregierung 0,8 Prozent angepeilt hat. Ich finde, die EU-Kommission sollte dagegen vorgehen, dass die italienische Regierung eine migrations- und pressefeindliche Politik betreibt. Dass sie in die Infrastruktur investieren und die Sozialsysteme stärken will, finde ich richtig.

Sie sind ein noch relativ junger Politiker und erst seit einem Jahr im Europaparlament. Warum haben Sie kein Mandat in einem Parlament angestrebt, in dem Sie etwas bewegen können?

Schirdewan: Das können wir im EU-Parlament schon. Grundsätzlich finde ich aber auch die Arbeit in Kommunal-, Landes – und Bundesparlamenten erstrebenswert. Ich bin politisch und mit dem Ziel in die Politik gegangen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Ich will gern dazu beitragen, die Demokratie in Europa wieder zu stärken. Es ist mein Ziel, allen Europäern jeder Altersgruppe ein würdevolles Leben in Europa zu ermöglichen.

Das ist angesichts des aktuellen Zustands der EU aber eine Utopie.

Schirdewan: Die Renationalisierung wird von ganz bestimmten Gruppen betrieben. Dabei sind Krieg und Frieden, Klima-, Umwelt-, Energie und die soziale Frage nichts, was an Staatsgrenzen Halt macht. Diese Fragen brauchen internationale Lösungen.

Von denen die Europäische Union derzeit weit entfernt zu sein scheint.

Schirdewan: Der Schlüssel liegt darin, dass wir auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene die Mehrheitsverhältnisse ändern und Lösungen entwickeln müssen.

Und das kann die Linke erreichen?

Schirdewan: Wir wachsen kontinuierlich, wenn derzeit auch nur langsam. Aber wir gewinnen gesellschaftlichen Zuspruch.

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