Wuppertal Uraufführung im Tanztheater Pina Bausch: Mitreißend getanzte Erinnerungen

„Neues Stück II“ begeistert bei seiner Uraufführung durch das Tanztheater Pina Bausch im Wuppertaler Opernhaus.

 Juli Shanahan und Cagdans Ermis in einer Szene aus "Neues Stück II" von Alan Lucien Oyen.

Juli Shanahan und Cagdans Ermis in einer Szene aus "Neues Stück II" von Alan Lucien Oyen.

Foto: Mats Bäcker

Wuppertal. Ist das jetzt der Aufbruch in die Zukunft für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch? Geht man nach der Stimmung, die am Samstagabend bei der Uraufführung des „Neuen Stücks II“ im Wuppertaler Opernhauses herrschte, muss die Antwort ein klares Ja sein. Denn Gastchoreograph Alan Lucien Øyen erreichte das Publikum mit seiner Inszenierung um Verluste, hervorgerufen durch Tod, Trennung oder Vergänglichkeit, und deren Verarbeitung durch Trauerarbeit in Wort, Tanz, Musik und Bildern. Traf mit der Themenwahl, die letztlich auch eine Reverenz an die große, 2009 gestorbene Choreographin ist, den Nerv. Und doch gab es einige Unzulänglichkeiten.

Es wird viel geraucht und viel gesprochen — direkt, übers Telefon mit Wählscheibe, ins Walkie Talkie, auf den Anrufbeantworter. Meist in englischer Sprache, was dem Verständnis aber nicht schadet. Schwierig wird es, wenn undeutlich gesprochen wird. Nicht alle Tänzer vermögen so einprägsam zu erzählen wie Julie Shanahan oder Nazareth Panadero (deren laut-gurrendes Timbre ebenso ankommt wie ihr grelles Lachen). Auch ist der Textanteil hoch — was nicht zuletzt an der Länge des Stücks von gut drei Stunden mit an die 50 Szenen liegt. Geschichten, von denen manche im Publikum nicht genug kriegten, die aber leider keinem klaren Spannungsbogen folgen und in ihrer Masse ermüden können.

Das Spiel der Erinnerungen an Verluste eröffnet Helena Pikon, die einem Beamten (Andrey Berezin) über den Bruder berichtet, der irgendwo zwischen Istanbul und Paris, den Tod fand, den sie fortan finden und beerdigen will. Jonathan Fredrickson und Douglas Letheren tanzen ein Verhör um eine Selbsttötung, das mit dem Geständnis und einander findenden Bewegungen der beiden endet. Wild, packend und wunderbar anzusehen. Die Tochter muss den Vater „gehen lassen“, ihr wird kurze Zeit später von seinem Tod berichtet, er sei „so sanft gefallen wie ein Baum“. Am Telefon teilt der Sohn mit, dass er seinen Vater getötet hat. Oft wird der tote Vater erinnert, „der beste Vater der Welt“, der Vater, dem man leider nicht gesagt hat, dass man ihn liebt. Das Ensemble trifft sich zum gemeinsamen Warten auf den Tod einer Verwandten im Zimmer nebenan, zu Trauerfeiern, Beerdigungen, Tanz, Erinnerungsaustausch oder -foto.

(Probenszene mit Helena Pikon und Ensemble. Foto: Mats Bäcker)

Verloren werden auch Beziehung und Familie. Rainer Behr und Tsai-Chin Yu ringen, streiten bis zur Erschöpfung, bis sie geht, ihn zurücklässt. Es geht unter die Haut, wenn der Verlassene verzweifelt mit Kreide an die schwarze schreibt „Ich bin noch hier“, von seinen Mittänzern hochgehoben wird, um mit seinem Rücken das Geschriebene wegzuwischen. Das Ensemble ist immer dann am besten, wenn es seine Gefühle durch den Körper ausdrücken darf. Es gibt etliche Tanzsoli (auch die junge Stephanie Troyak kann hier überzeugen) — ekstatische, explosionsartige, ruhige, mechanische, stets eindringliche. Und das Ensemble tanzt, zum Gefallen des Publikums, auch wieder zusammen, einmal sogar in wallenden Roben. Eingefleischte Pina Bausch-Fans kommen aber nicht nur bei den Tanzeinlagen auf ihre Kosten, es gibt auch wieder witzige Szenen, bei denen mitunter das Lachen im Hals stecken bleibt — wenn das Ensemble mit dem Publikum das Galgenspiel spielt, Nayoung Kim die Vorzüge des Alterns preist („I’m so beautiful“), während es ihr zunehmend schwerer fällt sich zu bewegen, oder die Urne im Beerdigungsinstitut als Aschenbecher dient. Man darf sich auch einfach mit Julie Shanahan und Çagdas Ermis freuen, wenn sie zu „I love you“-Klängen aus dem geöffneten Koffer mit Wind (und schönen Erinnerungen?) erfrischt werden.

Beeindruckend sind all diese Szenen auch wegen eines hochklassigen Bühnenbilds (Alex Eales), das aus verschachtelten, andauernd geschobenen Wänden besteht, die sich zu schier unbegrenzt verschiedenen Räumen fügen. Karg möblierte Räume, die meist an Kinoszenen aus US-Filmen der 40-er Jahre erinnern — mehrfach wird auch mit bombastischen Kameras gefilmt. Die Tänzer tragen eine Mischung aus zu dieser Zeit passender Kleidung und Outfits, die an die 80er Jahre erinnern. Dazu werden viele einfühlsame Klaviersoli, aber auch moderne (elektronische) Musik-Sequenzen gespielt. Farben und Ausleuchtung sind gedämpft — wie die Erinnerungen an die Menschen und die Zeiten, die gegangen sind.

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