Freies Netzwerk Kultur Wuppertal : Heiligt der Fleck die Mittel?
Das Wort ist ein Virus, das uns immuner macht.
Es ist erstaunlich: Mitten im dominierenden Grau scheinen einige Bäume die Zeit zu vergessen; sie knospen schon um die Wette, als sei der Frost Geschichte. Doch dies, sagen die Alten, sei allein vom Wind abhängig, den keine Robinie vorhersagen kann und das Leben an sich also ein Risiko im Wettkampf um die prime time der Bestäubung ist. Erich Kästner konstatierte kurz und bündig: „Wird’s besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.“
Dagegen ist ein Hauptproblem dieser Tage vor allem ästhetischer Natur: Der Minister sagt, wir sollen in die Armbeugen niesen, was ich gestern in der Schwebebahn brav tat. Der Fleck auf dem Ärmel war eklig, schwer zu entfernen und den Nebenstehenden keine Beruhigung. Dann doch lieber, falls das Tempo fehlt, das altmodische Baumwolltaschentuch. Als kleines Kind hatte ich welche, die selten sind: mit ulkigen Wörtern drauf, zwei gar mit kurzen Versen, die ich leider nicht mehr weiß. Ich lernte mit ihnen, dass nicht nur gute Laune und Grippe ansteckend sein können, sondern auch das Wort, der Reim, das Lesen all dessen, was uns im Leben begegnet und manchmal beschwert.
Der Virus, der uns derzeit zumindest mental fest im Griff hat, setzt Symbolbilder: „No hands“, der durchgestrichene Handschlag an Laden- und Theatertüren, überdeckt das Handgeben, das nach dem Anschlag von Hanau gerade auch von muslimischen Mitbürgern angeboten und eingefordert wurde. Die Worte jenseits der Werbe- und Mitteilungssprache verklingen so schnell; sie scheinen kaum noch Chancen zu haben gegen das Zusammenspiel von Infizierten- und DAX-Werten. Noch vor sich selbst scheint der Mensch das offene, das diskursive Wort in Quarantäne gesteckt zu haben – wo es einem nicht mehr zufällig begegnet, sondern man es suchen, aufsuchen muss.