Gastbeitrag Ausgehustet

Das Publikum ist durch die Auflagen wegen der Corona-Pandemie rar geworden.

 Torsten Krug vom freien Netzwerk Kultur.

Torsten Krug vom freien Netzwerk Kultur.

Foto: Fischer, A. (f22)/Fischer, Andreas (f22)

Ein aktueller Cartoon von Til Mette zeigt vier Musikerinnen und Musiker, die von der Bühne aus in einen leeren Zuschauerraum blicken. Eine Art Saaldiener weist auf den einzigen Zuhörer mit den Worten: „Werte Künstler, heute Abend wird das Publikum gespielt von Tim Schröder aus Herten.“

Ja, das Publikum ist rar geworden in unseren Theatern, Konzertsälen und sonstigen Spielstätten. Nicht etwa, weil es das Interesse an den dort allmählich wieder gewagten kulturellen Ereignissen verloren hätte, sondern zu seinem eigenen Schutz. Auch wenn der soloselbstständige Zuhörer in dem Cartoon seine Anreise womöglich dicht gedrängt im Bus oder in der Bahn verbracht hat und übermorgen eine Geschäftsreise im vollbesetzten Flieger antritt, kann er sich in unseren Theatern so sicher fühlen wie in einem OP-Saal. Kafkas Parabel vom Torhüter kommt mir in den Sinn. Der einzige Zuhörer fragt den Saaldiener immer wieder, wann denn das Publikum einträfe, doch am Ende muss er erkennen: Dieses Konzert war nur für ihn – und wir schließen diesen Ort jetzt.

Das kafkaesk anmutende Szenario hat seinen schmerzlich realen Kern: In einem kürzlich in der „Welt“ veröffentlichten Interview warnt Starbariton Matthias Goerne: „Die Kultur steht vor dem Bankrott.“ Die Politik ignoriere die Konzepte der Veranstalter ebenso wie positive Erfahrungen, etwa bei den Salzburger Festspielen. „Dort durften, weil alle Kartenbesitzer überprüft wurden, 50 Prozent der Kapazitäten nach dem Schachbrettmusterprinzip mit einem Meter Abstand besetzt werden. Warum wird das nicht zur Kenntnis genommen?“

Und derweil wir im heimischen Wohnzimmer vor den Kameras und Mikrofonen sitzen und uns ein Publikum imaginieren, verlieren wir den Kontakt. Eine ganze Branche, darunter Hoteliers, DJs, Licht- und Tontechnikerinnen, Manager, Zulieferer und so weiter, steht vor dem existenziellen Kahlschlag.

Man hört, in Konzerten würde derzeit so gut wie nicht mehr gehustet. Es traut sich wohl keiner mehr. Das ist ein Fortschritt und erhöht den Genuss wie die Aufmerksamkeit. Mir selbst erschien bei Gelegenheiten, die ich in den letzten Wochen erleben durfte, das Bedürfnis nach Live-Kultur, nach körperlichem Erleben einer gemeinsamen Präsenz, nach Austausch und Begegnung immens.

Das Publikum von Kulturveranstaltungen gilt als diszipliniert und mit einem starken Bewusstsein für die notwendigen Schutzmaßnahmen ausgestattet. Bestimmt sind unsere Kulturorte derzeit – neben dem Einwohnermeldeamt in Vohwinkel vielleicht – die sichersten öffentlichen Räume. Dies sollten wir zur Kenntnis nehmen und uns an eine Normalität unter Pandemie-Bedingungen herantasten. Ich selbst habe mich kürzlich durchaus unwohl gefühlt, als ich in einer Off-Theater-Premiere ohne Abstände neben andere Zuschauer platziert wurde. Das muss nicht sein. Aber Hygienekonzepte und ein hohes Maß an Bewusstheit erlauben eine mindestens 50-prozentige Auslastung auch großer Spielstätten. Leer bleibende Plätze müssen – gerade in kleinen Kulturorten – vorübergehend stärker subventioniert werden.

Vergessen wir nicht, dass Kultur in jeder Krisensituation wichtige Räume des Zusammenhalts eröffnet, die vor dem Auseinanderfallen von Gesellschaften und demokratischen Grundstrukturen schützen können. An einem Kulturort vergesse ich nicht die aktuelle Gefahr, sondern fühle mich im Gegenteil an sie gemahnt. Und daran, dass wir sie nur gemeinsam bewältigen werden.

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