Der zerbroche Krug: Vom Waldlauf zum Lustspiel

Theater am Kurort: Ingeborg Wolff übernimmt eine Hauptrolle bei den Domfestspielen in Bad Gandersheim.

Zwischen dem Blatt mit der Nummer 120 und dem Papier mit der Ziffer 20 liegen nicht nur 100 Seiten. Dazwischen stand vor allem eine Entscheidung. Ingeborg Wolff durfte sie ganz alleine treffen - und als dickes Kompliment werten.

Welche Schauspielerin kann sich ihre Rollen schon aussuchen? Die 63-Jährige kann es. Möglich machen es gleich zwei Männer auf einmal: Heinrich von Kleist, der die Textvorlage liefert, und Johannes Klaus, der sie in Bad Gandersheim inszeniert.

Schon im vergangenen Sommer machte Wolff im Kurort Theater. Dass auch in diesem Jahr das Telefon klingelte, weil Festspiel-Intendant Klaus den Wuppertaler Publikumsliebling erneut auf die Freilichtbühne locken wollte, "hat mich sehr gefreut. Ich gebe zu: Das Angebot hat an meiner Eitelkeit gekitzelt."

Lange musste Klaus, mit dem die Schauspielerin schon vor 20 Jahren in Essen zusammengearbeitet hat, nicht kitzeln. Denn aus weiblicher Sicht liefert "Der zerbrochene Krug" zwei "wunderbare Rollen".

Blieb also die Qual der Wahl - zwischen der Nachbarin Brigitte (die erst ab Seite 120 ins Spiel kommt) und Marthe Rull (die sich schon 100 Seiten vorher zu Wort meldet).

"Eigentlich wollte ich mich pragmatisch entscheiden und Frau Brigitte spielen", erklärt Wolff. Die kleinere Rolle hätte weniger Text und ein Déjà-vus-Erlebnis bedeutet, denn die Zeugin Brigitte hatte sie schon einmal gespielt - als TV-Kabarettist Jochen Busse ("Das Amt") das Lustspiel von 1806 vor einigen Jahren in Wuppertal auf die Bühne brachte.

Doch Wolff wäre nicht Wolff, wenn sie nicht lieber eine neue Herausforderung annähme, statt alte Pfade auszutreten. Dass sie sich am Ende für Marthe Rull entschieden hat, ist bezeichnend: Die Ensemble-Schauspielerin macht keine halben Sachen, erst

recht nicht in Wuppertal. "Die Arbeit macht großen Spaß", sagt Wolff. Aus gutem Grund: "Ich fühle mich vom Wuppertaler Publikum sehr angenommen."

Was gibt es auch Schöneres, als mit dem eigenen Knef-Programm eine ausverkaufte Vorstellung nach der anderen zu geben? "Dass mein Wunschprojekt so einschlagen würde, hätte ich nie zu hoffen gewagt", freut sich die Knef-Doppelgängerin.

Schauspielerin Ingeborg Wolff

Während der Proben in Bad Gandersheim, die am Montag beginnen, wird Wolff regelmäßig die Heimat ansteuern - um in die Haut von Hildegard Knef zu schlüpfen oder als verdatterte Schauspielerin in der Farce "Der nackte Wahnsinn" den Theateralltag ad absurdum zu führen.

Ihre Rolle als grottenschlechte Künstlerin kommentiert sie mit dem passenden Schmunzeln: "So was Beklopptes habe ich noch nie gemacht!" Die temporeiche Komödie ist "echte Knochenarbeit. Nach einer Vorstellung fühlt man sich wie nach einem zweistündigen Waldlauf." So gesehen ist Wolff eine Marathon-Schauspielerin. Dass sie keinen Waldlauf ihrer langen Karriere bedauert, beweist die Frage, die Künstlerkollegen normalerweise zu schwärmerischen Aufzählungen verführt. Wolff jedoch überlegt, ist am Ende selbst überrascht - und dankbar. "Traumrollen? Habe ich nie gehabt. Ich habe sie immer bekommen."

Die aktuelle führt nach Bad Gandersheim. Schon jetzt freut sie sich auf die Premiere am 28. Juni: "Johannes Klaus ist locker und inszeniert locker." Außerdem gibt es ein Wiedersehen mit einem weiteren alten Bekannten (Dietmar Bär spielt den Dorfrichter) und warme Quellen, die der Bandscheibe gut tun.

Nicht nur deshalb sei ihr das Engagement im Sommer 2006 wohl bekommen. "Im Kurort fährt man überall Tempo 30." Auch in Wuppertal lässt sie es seitdem langsamer angehen: "Ich bin viel ruhiger geworden." Als Autofahrerin, versteht sich. Auf der Bühne gibt sie weiterhin kräftig Gas.

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