Buh-Rufe und Begeisterung: Der stumme Schrei der Verzweifelten

Die Premiere von „Liliom“ löste unterschiedliche Reaktionen aus.

Wuppertal. Sie schreien stumm. Mit offenen Mündern stehen die nur durch wenig Stoff geschützten Körper da. Hilflos, verzweifelt, um die nackte Existenz fürchtend. Es sind Momente wie diese, in denen im Opernhaus eindringlich klar wird: Manchmal braucht es keinen Text, um viel zu sagen.

So gelingt Sybille Fabian eine beeindruckende Inszenierung — allerdings auch eine, die sichtlich polarisiert. Die Wuppertaler „Liliom“-Version, am Donnerstagabend mit begeisterten Pfiffen, andererseits mit vereinzelten Buh-Rufen quittiert, folgt einem extremen Ansatz und ruft auch extrem unterschiedliche Publikumsreaktionen hervor: Die einen sind fasziniert, die anderen können mit der außergewöhnlichen Interpretation von Ferenc Molnárs „Vorstadtlegende“ ganz offensichtlich nichts anfangen.

Fakt ist: Sybille Fabian bleibt sich auch bei ihrer dritten Arbeit an den Wuppertaler Bühnen treu. Und so dürfte den Zuschauern vieles durchaus bekannt vorkommen: Auf der Bühne von Herbert Neubecker dominieren die Farben Schwarz und Weiß, und die Kostüme von Michael Sieberock-Serafimowitsch zeigen, wie wenig Halt die halbnackten Figuren im grauen, hoffnungslosen Alltag finden — sie geben nicht nur den Blick auf Brustwarzen frei, sondern entblößen letztendlich auch die verwundeten Seelen. Dabei spielt sich der Überlebenskampf von Julie (Julia Wolff) und Liliom (Thomas Braus) in einer expressiven Bildsprache ab — mit obszönen Gesten, sexuellen Anspielungen und handfesten Machtdemonstrationen.

Die Geschichte eines Mannes, der zu stur ist, um sein Leben — trotz einer zweiten Chance — in die richtigen Bahnen zu lenken, und einer Frau, die sich — trotz der Warnung der anderen — in bedingungsloser Hingabe von ihrem Partner schlagen lässt, weil sie bis zum Ende an das Gute im Menschen glaubt, ist keine leichte Kost: Im Laufe des 100-minütigen Abends verlassen immer wieder einzelne Zuschauer den Saal.

Die, die bleiben, erleben einen Abend mit vielen Höhen und einigen Tiefen. Den ersten Höhepunkt gibt es gleich zu Beginn: Minutenlang bewegen sich die Figuren, zu Nummern degradiert, im Zeitlupen-Tempo. Sie sehen aus wie uniformierte Außerirdische — wie Roboter, die keine Identität haben, sich häuten wollen und erst noch Menschen werden müssen. Das Vorspiel wirkt immens — nicht zuletzt wegen der Kulisse, einer Mischung aus tristem Häuserblock, Kampfarena und Gefängnis. Wollen oder können die Figuren keine Persönlichkeit entwickeln? Sind sie in sich selbst gefangen? Oder sind ihnen die Hände gebunden, weil die äußeren Umstände jede Selbstentfaltung verhindern?

Wer eine volkstümliche Rummelplatz-Atmosphäre erwartet, wird enttäuscht. Die Körper zucken auf einer leeren Drehbühne — mal aus Schmerz, mal aus Lust. Sie verbiegen sich in jeder Hinsicht — und die Schauspieler meistern den Balanceakt grandios. Was durchaus symbolisch zu verstehen ist: Julie zieht ihr knappes Kostüm hilflos in die Länge, Liliom hingegen nimmt sich selbst Spielraum, indem er die Hände größtenteils in den Hosentaschen lässt. Auch Gregor Henze brilliert — als männliche Frau Muskat.

Die traurige Geschichte vom arbeitslosen Karussell-Ausrufer, der kriminell wird und sich selbst tötet, lebt von vielen leisen Momenten, aber auch von elektronischer Musik, die sich schmerzhaft-hämmernd den Weg in die Ohren bahnt. Zwar hält Sybille Fabian nicht durchgängig die Spannung: Zwischendurch geht Dynamik verloren. Unter dem Strich jedoch ist die Bildsprache überwältigend. Das Ganze hat jedoch auch einen Nachteil: Man sollte die Handlung kennen, um ihr nahtlos folgen zu können. Und man muss sich einlassen — auf eine „Liliom“-Version, die wenig Stoff, aber viel Diskussionspotenzial bietet und als Sinnbild für eine Welt, in der Körpersprache alles und der einzelne Mensch nichts ist, buchstäblich unter die Haut geht.

Regie: 4/5
Bühne: 4/5
Ensemble: 5/5

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