Projekt Kritik und Liebesbriefe aus dem Wüsten-Viertel

Wuppertal · Sonja Ruße und Christa Stadtler trugen als Viertelsprecherinnen Texte aus der Bevölkerung vor.

 Christa Stadtler (l.) und Sonja Rueß werden die ersten Viertelsprecherinnen des Ostens.

Christa Stadtler (l.) und Sonja Rueß werden die ersten Viertelsprecherinnen des Ostens.

Foto: Fischer, Andreas H503840

„Jetzt lebe ich schon fünf Jahren in Oberbarmen und habe den vielzitierten Angstraum immer noch nicht kennengelernt“, war eine der Nachrichten, die die frisch gebackenen Viertelsprecherinnen auf dem Peter-Hansen-Platz vor der „Färberei“ vor dem mit gehörigem Abstand in Liegestühlen sitzenden Publikum vortrugen.

Sonja Rueß und Christa Stadtler gaben im Rahmen des über vier Jahre angelegten Projekts „Die Wüste lebt“ ihr Debüt und liehen damit den Oberbarmern ihre Stimmen zu Dingen, die immer schon mal gesagt werden mussten.

„Stadtschreiber“ Roland Brus ist auch Regisseur und künstlerischer Leiter der Veranstaltungen im Rahmen des Projekts, das im „Vielvölker-Quartier“ Oberbarmen-Wichlinghausen die Menschen einander näher bringen soll. Er hatte zusammen mit seinem „Oasen-Team“ Nachrichten gesammelt, die am gestrigen Spätsommer-Nachmittag öffentlich zu Gehör gebracht werden sollten. Und Roland Brus kündigte die auf einem mit einem Orientteppich bedeckten Podest stehenden Damen auch per Mikrofon und Klingelglöckchen an.

Sonja Rueß, Musikerin, Gärtnerin und Mitglied des „Oasen-Chors“, und Christa Stadtler, selbständige Supervisorin, die sich vorher nicht kannten, waren unter den Bewerbern ausgewählt worden und setzten die Regie-Anweisungen von Roland Brus auf ihre Weise unterhaltsam und mit klarer Sprache um. Geradezu bewegend, wie Rueß einen Liebesbrief mit Gefühl und Pathos vortrug. Und wie Christa Stadtler einen Brief mit herber Kritik am Jugendamt verlas.

Zu vielen Dingen wurde Stellung genommen: ein immer wiederkehrendes Thema natürlich Corona. Wobei eine Briefschreiberin sich an die 1950er Jahre erinnert fühlte und die aktuellen Corona-Zeiten gegenüber der Nachkriegszeit in den 50ern als reinen Luxus bezeichnete. Liebevoll der Satz: „Oberbarmen ist lebens- und liebenswert.“

Auch Alltägliches wie Klage über Kurzarbeit, ein geklautes Fahrrad, aber auch Klassisches wie Hölderlin-Zitate klangen aus den Mündern der vortragenden Damen. Lob und Kritik war mehr als eine halbe Stunde lang zu hören, dazu die melancholischen Trompetenklänge von Frederik Heuer von der Band Belacongo.

„Spaß hat es uns gemacht“, lauteten die Kommentare der beiden Viertelsprecherinnen, die in zwei Monaten wieder auftreten werden, wenn sich sicher wieder einiges aus Wuppertals Osten angesammelt hat.

„Wir waren während der Corona-Zeit nicht untätig“, berichtete Roland Brus von neuen Projekten und „Online-Proben“ des Oasen-Straßenchores, dessen Zusammensetzung allerdings noch nicht der Oberbarmer Bevölkerungsstruktur mit fast einem Drittel Migranten-Anteil entspricht. „Daran müssen wir noch arbeiten.“

Das Modellprojekt „Die Wüste lebt“ der Färberei möchte mit Hilfe von künstlerischen Methoden das Quartier entdecken und erforschen. „Denkräume sollen geöffnet und Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme geschaffen werden. Und das mittels Musik und Choreografien, die sich nicht nur auf Oberbarmen beschränken“, heißt es in den Leitlinien des Projekts, dem ein Marktwagen als „Wüstenmobil“ zur Verfügung steht. „Klar, ist das alles ein bisschen crazy“, meint die neue Viertelsprecherin Rueß lächelnd und fügt hinzu: „Aber das gehört ja auch zum künstlerischen Leben dazu.“

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