Kolumne „LeChajim“ heißt „Für das Leben“

Wuppertal · Die Juden haben in der Geschichte immer wieder die Kraft gefunden, sich dem Leben zuzuwenden.

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Foto: Fries, Stefan (fri)

LeChajim“ heißt „Für das Leben“ und ist nicht nur ein Trinkspruch in fröhlicher Runde, sondern eine Grundlage jüdischer Lebensweise. Durch die Jahrtausende ihrer Existenz haben die Juden immer wieder furchtbare Erfahrungen gemacht. Woher nahm der Rest der jeweils Überlebenden die Kraft, sich dem Leben wieder zuzuwenden, ja das Leben zu feiern?

Vor ein paar Jahren hat N. J. Harari, Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem, versucht, in drei Büchern die Geschichte der Menschheit und die Struktur des Menschen zu erklären. Diese Bücher wurden auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern. Prof. Harari kam zu dem Ergebnis, der Mensch sei ein von Algorithmen gesteuerter Chemiebaukasten, der in absehbarer Zeit von der sich ständig weiterentwickelnden KI (künstlichen Intelligenz) überholt und ausgemustert werden würde. Für ein Problem hatte er jedoch noch keine schlüssige Antwort. Was ist eigentlich das menschliche Bewusstsein? Besondere Begabungen, wie z. B. geniale Musikalität ordnete er einer besonderen chemischen Zusammensetzung zu. Übrigens haben Tier und Mensch für ihn die gleiche Struktur. Doch da der Mensch sich in manchen Punkten erkennbar vom Tier unterscheidet, vor allem darin, dass der Mensch um sein Menschsein weiß und das auch artikulieren kann, gibt es hier für ihn noch einen ungelösten Knoten.

Hier muss erwähnt werden, dass Judentum eine Lebensweise ist, keineswegs nur eine Konfession, wie wir sie von den christlichen Kirchen kennen. Natürlich gibt es starke religiöse Grundlagen, die besonders seit der Aufklärung in vielfältigen Strömungen zum Ausdruck kommen. Aber es gibt auch Agnostiker und sehr viele säkulare Juden. Sie alle sind bekennende Juden, eine viele Generationen umgreifende Schicksalsgemeinschaft. Prof Harari sagt von sich, er sei säkularer Jude. Daraus erklärt sich wohl auch sein Denkansatz.

Wie ist das nun mit dem Bewusstsein?  Religiöse Juden haben damit kein Problem. Sie schauen in das 1.Buch Mose und lesen im Schöpfungsbericht (Kap. 2,7): „Wajipach beapaw nischmat chajim“  („und er hauchte den Odem des Lebens in seine Nase“)  und: „Wehaja ha’adam lenefesch chaja“  („und es wurde der Mensch ein belebtes Wesen“). Dieses belebende Element heißt in Übersetzungen „Odem“, poetisch für Atem, oder auch Seele oder auch Geist Gottes. Die hebräische Sprache differenziert zwischen „nefesch“, „neschama“ und „ruach“.  „Nefesch“ heißt auch „Kehle“.  Wenn man einem Menschen die Kehle zudrückt, kann er nicht mehr atmen, er stirbt. Adam wurde also mit der „nefesch“ beatmet und wurde lebendig. „Nefesch“ kann man also einfach mit „lebendig“ übersetzen. „Neschama“ hat schon eine andere Qualität. Wir beten jeden Tag im Morgengebet: „Neschama, schenatata bi tehora“ („Die Seele, die DU mir gegeben hast, ist rein …“).  Dieser dem Menschen eingehauchte Odem ist das kostbarste Geschenk seines Schöpfers, seine Verbindung zu diesem Schöpfer, die er bewahren soll, über die er aber nicht verfügen kann. Der Mensch kann sie nicht verunreinigen. Das Judentum kennt keine Erbsünde, welche die Seele beschädigt.

Dann gibt es noch „ruach“, den „Geist Gottes“. Er ist ein freies Geschenk, eine Verkörperung der Nähe Gottes. Es sei noch betont, dass diese Zuwendungen des Schöpfers allen Menschen, nicht nur den Juden, gelten. Feministinnen werden sich freuen, dass „neschama“ ein femininer Begriff ist. „Ruach“ kann sowohl maskulin als auch feminin gebraucht werden, je nach Kontext. Lediglich „nefesch“, das Lebensprinzip, das durchaus auch animalisch sein kann, ist maskulin.

Alle drei Begriffe finden sich in vielen Teilen der Bibel. Auch die Gelehrten, deren Diskussionen im Talmud gesammelt sind, haben sich mit ihnen auseinandergesetzt. Erst wenige Jahrhunderte vor der Zeitenwende hat man sich jedoch Gedanken darüber gemacht, was nach dem Tod des Menschen mit der „neschama“ und der „ruach“ geschieht.  Sie werden wohl zu Gott zurückkehren. Wie immer entwickelte man unterschiedliche Vorstellungen.  Besonders die Kabbalisten, die jüdischen Mystiker, vertieften sich in dieses Thema. Das kann man leider hier nicht alles entfalten. Über eines war und ist man sich aber bis heute einig: „neschama“ und „ruach“  sind Träger der ethischen Verantwortung des Menschen für das Leben hier auf dieser Erde. Darum ist der Schutz des Lebens eines der höchsten Gebote. Sogar der Schabbat tritt dahinter zurück, heißt es doch: „Besser das Schabbatlicht auslöschen als das Licht des Lebens, das Gottes Licht ist“ (b.Sabb.30b).

Wir Juden haben schon viele Katastrophen durchlebt und uns oft gefragt, ob es einen Gott gibt oder nicht. Schließlich haben wir immer wieder mit Hiob (10,12) gesagt: „Leben und Liebe hast Du mir erwiesen“ und uns dem Leben wieder gestärkt zugewandt.

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