Was glauben Sie denn? Die oberste Direktive

Nichteinmischung ist oberstes Gebot. Fans der Science-Fiction-Serie „Star Trek“ kennen das. Egal ob Jean-Luc Picard, Kathryn Janeway oder Benjamin Lafayette Sisko – die Captains und Commanders der Sternenflotte führen schnell die oberste Direktive im Wort, wenn sie in den Tiefen des Alls auf Unentdecktes stoßen.

 Dr. Werner Kleine - Freisteller

Dr. Werner Kleine - Freisteller

Foto: Christoph Schönbach

Um die fremden Kulturen, die meist rückständig sind, in ihrer Entwicklung nicht zu stören, hat sich die weiter entwickelte Kultur schlicht nicht einzumischen. Die oberste Direktive gilt unumwunden. Was glauben Sie denn?

Wer die verschiedenen Ableger der Serie kennt, weiß, dass die oberste Direktive mit schöner Regelmäßigkeit gebrochen wird. Es gibt nämlich eine noch höhere Direktive, die über der obersten Direktive liegt: Menschlichkeit. Die Menschlichkeit gebietet das Brechen der obersten Direktive – nicht als permanente Regel, wohl aber im begründeten Einzelfall. Die Theologie spricht in diesem Zusammenhang von der Tugend der Epikie. Wer die Epikie anwendet, stellt nicht das Gesetz in sich in Frage, sondern erkennt in seinem Gewissen, dass die Anwendbarkeit eines Gesetzes im konkreten Einzelfall, in dem die Anwendung des Gesetzes ungerecht und unsittlich wäre.

In den letzten Tagen ist die Welt Zeuge von einem solchen Vorgang geworden. Die deutsche Sea-Watch-3-Kapitänin Carola Rackete hatte vor der Küste Libyens 42 in Seenot geratene Flüchtlinge an Bord genommen. Das ist an sich kein edler  und heldenhafter Akt, sondern eine Pflicht, der jeder Kapitän nach der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen unterliegt. So weit, so gut. Nun aber entbrennt in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine dermaßen emotionsgeladene Diskussion, die der real existierenden Verhältnisse unkundigen Aliens Anlass zur Vermutung geben muss, Deutschland sei ein kleines, im Volksmund „Lampedusa“ genanntes Eiland, das nun von 42 aus Afrika stammenden Menschen überflutet würde. Tatsächlich aber gehört Lampedusa zu Italien, dessen aktuelle Regierung durch Innenminister Matteo Salvini nicht per Gesetz, wohl aber per Dekret die eigenen Häfen für Flüchtlingsorganisationen schließen ließ.

Die Lage ist also kompliziert. Wie etwa verhält sich das Dekret Salvinis zur Seerechtskonvention der Vereinten Nationen? Muss man als seenotrettende Kapitänin den nächsten oder den nächsten sicheren Hafen anfahren? Kann man guten Gewissens in Seenot Geratene nach Libyen bringen, auch wenn dort die Achtung der Menschenrechte nach Einschätzung der Vereinten Nationen nicht garantiert ist? Auf derlei komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten. In den Kommentarspalten der sogenannten sozialen Medien aber war zwischen „Freiheit für Rackete“ und „Sie hat ein Gesetz gebrochen, sie muss sitzen“ kaum eine Vermittlung möglich. Ton und Haltung, mit der man die Debatte führt, lassen vermuten, dass die Bewohner des kleinen Eilands Deutschland, in dem, so munkelt man, ehemals Dichter und Denker zu Hause waren, nicht mehr ganz dicht unter dem Dach zu sein scheinen. Keine Spur von Güterabwägung. Keine Spur von Differenzierung, wie die unterschiedlichen moralischen und juristischen Aspekte zu gewichten seien. Und dann – kurz nach der Verhaftung von Kapitänin Rackete, die sie um des Wohles ihrer Schützlinge willen sehenden Auges in Kauf genommen hatte – das Urteil eines italienischen Gerichtes: Einzelfragen sind noch zu klären, aber das Recht war auf der Seite der Kapitänin. Sie kommt frei. Jede oberste Direktive verliert ihre Gültigkeit angesichts jener noch höheren Direktive: der Menschlichkeit. Sie ist es, die den Menschen zum Menschen macht. Ohne Menschlichkeit wird der Mensch dem Menschen zum Wolf. Allem digitalen und analogen Geraune und Drohen zum Trotz hat eine italienische Richterin das verstanden. Möge sie lang und in Frieden leben!

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