Interview Kinderarmut im Bergischen Land bereitet große Sorge

Wuppertal · Caritas-Chef Dr. Christoph Humburg wünscht sich mehr Hilfe für betroffene Familien.

 Dr. Christoph Humburg ist seit 2009 Direktor des Caritasverbands Wuppertal/Solingen. 

Dr. Christoph Humburg ist seit 2009 Direktor des Caritasverbands Wuppertal/Solingen. 

Foto: Christian Beier

Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung rückt das Thema Kinderarmut in den Blick. Danach wachsen 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen in Armut auf. Wie groß ist das Problem in Wuppertal?

Dr. Christoph Humburg: Wir haben als Caritasverband viel mit dem Thema Kinderarmut zu tun. In Wuppertal lebt – je nach Rechnungsweise – jedes dritte bis vierte Kind unterhalb der Armutsgrenze. Wir merken das in vielen Bereichen, etwa bei den Flexiblen Erzieherischen Hilfen (Flex), im Migrationsdienst oder in Arbeitsmarktprojekten, in denen wir Einblicke in die Familien haben. Kinderarmut ist ein grundsätzliches gesellschaftspolitisches Thema. Wir müssen viel mehr den Blick auf die betroffenen Familien lenken.

Wann ist ein Kind arm?

Dr. Humburg: Arm ist, wer unterhalb der definierten Armutsgrenze liegt, etwa dem Sozialhilfesatz. Als arm gelten Kinder aus Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. In Deutschland muss man die Armutsgrenze natürlich anders definieren als in Ländern wie beispielsweise Indien oder Bangladesch, schließlich müssen wir die Parameter unseres Gesellschaftssystems zugrundelegen. In unserer stark auf Kapitalmaximierung ausgelegten Gesellschaft fordern wir als Caritas nicht nur einen Armuts-, sondern einen Armuts- und Reichtumsbericht. Diese Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und das wirkt sich auf die psychische und physische Gesundheit vieler Kinder verheerend aus.

Welche Auswirkungen hat das auf die Kinder konkret?

Dr. Humburg: Wer reich ist, bestimmt auch gesellschaftliche Werte, das ist unsere fundamentale Kritik an dem gesellschaftlichen System. Das trifft besonders Familien und Kinder, die keine Chancengleichheit haben. Kinder können am sozialen Leben nicht teilnehmen. Ein Beispiel: Wer kein Geld für ein Geschenk hat, ist bei Geburtstagsfeiern raus. Es kostet Geld, an Bildungsangeboten, an Sport- oder Musikunterricht teilnehmen zu können. Die Kinder, die das nicht können, schämen sich, trauen sich auch nicht, jemanden nach Hause einzuladen.

Also ist das Thema Wohnraum eines der Probleme?

Dr. Humburg: Die Wohnsituation und der Beruf der Eltern sind Armutskriterien. Unsere Flex-Kollegen erleben oft die Probleme: zu kleine Wohnung, kein eigenes Zimmer, keine eigene Schlafmöglichkeit für Kinder. Zudem sind viele Wohnungen in schlechtem Zustand, feucht oder voller Schimmel. Dann haben viele Kinder keinen Ort, um ihre Hausaufgaben zu machen, Spielen findet vor dem Fernseher und vor der Spielekonsole statt. Durch schlechten Wohnraum sind Kinder gesundheitlich gefährdet – physisch und psychisch.

Spielt dabei auch das Thema Ernährung eine Rolle?

Dr. Humburg: Leider kommen viele Kinder ohne Essen in die Schule oder die Kita. Hilfsangebote von Vereinen sind während des Corona-Lockdowns weggefallen. Kinder aus armen Familien essen mehr Fast Food, ernähren sich öfter ungesund und haben häufig Über- oder Untergewicht. Es fehlt oft die Entwicklung von positiven Essgewohnheiten, es gibt seltener gemeinsame Mahlzeiten. Es geht um existenzielle Grundbedürfnisse von Kindern, die großen Einfluss auf ihre Entwicklung haben.

Dann sind Kinder, die in Armut leben, auch häufiger krank?

Dr. Humburg: Ja, Bronchitis, Asthma, schlechte Zähne und andere Krankheiten gehen oft einher mit finanzieller Not. Auch die sprachliche, kognitive oder emotionale Entwicklung ist teilweise verzögert. Dazu können Frustration, gesteigerte Aggression oder vermehrt psychische oder suchtbezogene Erkrankungen kommen.

Inwieweit hat Corona die Situation noch verschärft?

Dr. Humburg: Corona wirkt wie ein Brennglas und Verstärker sozialer Benachteiligung. Bei armen Familien hat sich das Problem noch weiter verschärft, andere aus der Mittelschicht sind durch Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit in Armut hineingerutscht. Das merken wir insbesondere im Internationalen Begegnungszentrum an der Hünefeldstraße in Barmen. Vor Corona haben wir dort Menschen empfangen, die knapp an der Armutsgrenze lebten und die jetzt mit ihren Kindern dastehen und gar nichts mehr zu essen haben. Doch nicht nur das: Viele Kinder hatten keinen Zugang zu digitalen Geräten, um etwa Hausaufgaben machen zu können. Sie werden abgehängt. Das verschärfte die zweite Seite von Armut, nämlich Bildungsarmut. An der Stelle mangelt es an Chancengleichheit. Deutlich wird, dass Schulen und Kitas in der Vergangenheit vieles aufgefangen haben – bis hin zum warmen Mittagessen.

Wie sieht es im Bereich der Freizeitgestaltung aus?

Dr. Humburg: Hier war es wichtig, dass wir in den Sommerferien die Stadtranderholung anbieten konnten. Für viele Kinder ist es die einzige Möglichkeit, soziale Kontakte außerhalb der Familie herzustellen. Es geht nicht um Luxusferien, sondern darum, den Kindern einen Ausweg aus dem Alltag zu bieten. Für Familien mit geringem Einkommen gibt es die Möglichkeit eines Zuschusses. Wir müssen sicherstellen, dass am Ende nicht diejenigen  Kinder zu Hause bleiben, deren Familien das Geld für eine Freizeit fehlt.

Wie erreichen Sie Menschen, die Hilfe brauchen?

Dr. Humburg: Durch die Flexible erzieherische Hilfe erreichen wir viele Familien. Deshalb muss das Angebot weiter ausgebaut werden. Junge Eltern erreichen wir auch über unsere Schwangerenberatung Esperanza, die in Wuppertal jährlich 800 Mütter und Väter berät, die von Armut betroffen sind. Bei 50 Prozent der Eltern liegt das Einkommen unter den SGB-II-Sätzen. Viele Kinder haben Sprachbarrieren, 30 Prozent kommen aus dem nicht-europäischen Ausland. Viele Kinder, etwa aus den Balkanstaaten, haben beispielsweise auch keine Krankenversicherung.

Was muss aus Ihrer Sicht noch verbessert werden?

Dr. Humburg: Die Angebote reichen leider noch nicht aus. Es gibt viele Grenzfälle, bei denen man stärker hingucken muss. Die Hilfe muss noch mehr in die Tiefe gehen, das kostet aber Zeit und Geld. Es müsste auch noch mehr in präventive Arbeit gesteckt werden. Was die Studie zeigt, spiegelt sich eins zu eins in Solingen oder Wuppertal wider. Wir müssen erkennen, dass sich in Kinder investiertes Geld Jahre später auch finanziell rechnen wird, wenn sie einen Beruf haben und Steuern zahlen statt Sozialleistungen zu beziehen.

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