Ist Hartz IV für Hauptschüler attraktiver als Ausbildung?

Kinder gehen weiter zur Schule, um die Familie zu schützen.

Wuppertal. Den Ausbildungsvertrag hatte er in den Händen, der Weg in den Beruf schien dem Hauptschüler Mario (Name geändert) geebnet. Dann unterschrieb er jedoch nicht. Des Geldes wegen. Das teilte der 18-Jährige seinem Lehrer Hannes Kampe mit, der daraufhin aus allen Wolken fiel.

Marios Erklärung: „Ich wollte es machen, das war schon eine Enttäuschung.“ Aber er hätte keine Wahl gehabt. Sobald ein Kind von Hartz-IV-Empfängern nämlich eine Ausbildung beginnt und selbst verdient, wird Hartz IV gekürzt. Und das hätte die ohnehin schwierige finanzielle Situation seiner Familie noch verschärft.

„Wir quälen uns, servieren den Ausbildungsplatz quasi auf dem Silbertablett“, ärgert sich Kampe. Und dann treten die Hauptschüler die Stelle nicht an. Meist liege es an den Eltern, die kurzfristig schauen müssten, wie sie über den Monat kommen, berichtet Kampe. Der Lehrer sieht einen Teufelskreis: „Eltern Hartz IV, Kinder Hartz IV.“

Hannes Kampe unterrichtet seit zehn Jahren die sogenannte BUS-Klasse (Beruf und Schule) für schulmüde Kinder an der Hauptschule Barmen Südwest. Er bereitet die Jugendlichen auf eine Ausbildung vor. Von 14 Schülern haben dort nur etwa fünf Eltern, die in Vollzeit arbeiten, sagt er.

Marios Überlegung: Mit einer Ausbildungsvergütung von etwas mehr als 300 Euro im Sicherheitsdienst wären der Familie 180 Euro von Hartz IV abgezogen worden. Mit Reisekosten zum Berufskolleg nach Gelsenkirchen und der Anschaffung eines Rollers rechne sich die Ausbildung also finanziell nicht. Auch sein Bruder habe seine Stelle deshalb nicht angetreten, sagt der Schüler.

Bei Cengiz (17), ebenfalls Schüler von Kampe, der bei einem Bäcker seine Ausbildung (320 Euro monatlich) absolviert, betragen die Abzüge bei der Familie 210 Euro. Auch hier stand die Ausbildung auf der Kippe. Doch für Cengiz kam ein Abbruch nicht in Frage: „Ne ne, was ich anfange, mache ich auch zu Ende.“ Diese Einstellung unterstützten auch seine Eltern.

Außerdem mache ihm die Arbeit Spaß. „Früh aufstehen kann ich gut. Und dann hab ich später am Tag mehr Zeit. Das ist gut, wenn ich mal Kinder habe“, sagt er. „Jetzt ist es perfekt, eine bessere Arbeit gibt es nicht.“ Von der Liste für die „Sicherung des Lebensunterhaltes“ seiner Familie sei er sogar gestrichen worden. Momentan gibt er 300 Euro an seine Eltern, 20 bleiben ihm. Ab und zu legt seine Mutter auch noch Geld für ihn beiseite. „Ich kann nichts großes machen, vielleicht mal ’nen Döner mit Freunden essen“, erzählt er. „Mein Geld brauchen wir für Strom und Essen.“ Über die Kürzungen hätten er und sein Mitschüler Mario sich bereits beschwert.

Sozialdezernent Stefan Kühn kennt das Problem aus dem Niedriglohnsektor. „Arbeit muss sich lohnen“, sagt er. Deswegen gebe es die Möglichkeit, bestimmte Beträge von Kürzungen freizubekommen. Den konkreten Fall der Familien müsse man durchrechnen, sagt Kühn. Es komme dann auf den Spielraum an, den das Bundesrecht zulässt.

„Es ist eine verlogene Debatte. CDU und SPD streiten sich um sechs Euro bei Hartz IV — und hier geht es um 180 Euro, das ist blanker Hohn“, meint Kampe. „Man möchte doch die Leute aus der Lage herausbekommen, da muss man die Hebel an den richtigen Stellen wie Kinderförderung und Berufs-Integration ansetzen.“

Nun gehe Mario zum Berufskolleg, was angesichts seiner schulischen Motivation nicht die beste Lösung sei, sagt Kampe. Er riet ihm von einem Gelegenheitsjob ab. Der 18-Jährige versucht nun, das Beste aus der Situation zu machen: „Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich den Realschulabschluss.“

Jetzt wird er erneut bei dem Sicherheitsdienst arbeiten, bei dem er den Vertrag hatte — in einem dreiwöchigen Praktikum. Vielleicht macht er nach dem Sommer dort weiter, wenn es geht. „Möglich“, sagt er. „Mal gucken. Der Chef hat gesagt, dass wir über die Ausbildung reden können.“ S. 18

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort