Begrabt mein Herz in Wuppertal Eine Gleitsichtbrille für die ewigen Jagdgründe

Uwe Becker lebt jetzt jeden Tag, als wäre es der letzte.

 Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic. Jeden Mittwoch schreibt er in der WZ über sein Wuppertal.

Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic. Jeden Mittwoch schreibt er in der WZ über sein Wuppertal.

Foto: Joachim Schmitz

Wenn wir in naher Zukunft alle infiziert sind und sterben, dann kann ich immerhin kurz vorher noch stolz berichten, dass ich zum Ende meines Lebens endlich eine richtig gute und qualitativ hochwertige Brille besaß. Vor gut drei Monaten entschied ich mich nämlich für den Ankauf einer Arbeitsplatzbrille mit Mehrstärkengläsern. Die sogenannte Raumcomfortbrille ist die komfortabelste Alternative für den ständigen Blickwechsel zwischen Computerbildschirm, Schriftstücken und anderer Büroarbeit (Kaffee kochen). So oder ähnlich schreibt es auch der Fachhandel auf seiner Internetseite. Wenn es denn zum Schlimmsten kommen sollte, werde ich immerhin mit geschärftem Blick ins Jenseits treten. Ob uns dort, am endgültigen Ziel unserer lebenslangen Reise, die ewige Dunkelheit erwartet, steht nicht zweifelsfrei fest, daher könnte mir die knapp 500 Euro teure Gleitsichtbrille in den ewigen Jagdgründen noch dienlich sein.

Mir fällt passend dazu ein, dass ich seit einer schweren Grippe im Dezember 2017 nicht mehr rauche und es mir jetzt gesundheitlich um ein Vielfaches besser geht als in meinem vorangegangenen Leben, in dem ich insgesamt bestimmt weit über eine halbe Million Zigaretten geraucht habe. An dieser Stelle könnte man Viren auch mal loben, denn ohne das Grippe-Virus, das mich damals heimgesucht hatte, würde ich heute immer noch quarzen.

Kommen wir noch einmal auf meine neue Brille zurück. In einem benachbarten Speiselokal traf ich vor einigen Tagen zufällig auf den Optiker, der meine Brille so äußerst präzise und gewissenhaft hergestellt hatte. Da ich die Gelegenheit nutzen wollte, um mich bei ihm nicht nur für die gute Arbeit zu bedanken, sondern auch noch einige Fragen hatte, setzte ich mich kurz zu ihm und zeigte ihm die Brillen-Gläser-Verordnung meines Augenarztes.

Plötzlich stand ein freundlicher, älterer Herr an unserem Tisch, der uns über die Schultern sah und sich als Optikermeister zu erkennen gab. Ich gewährte nun beiden Fachkräften einen Blick auf meine Dioptrien-Werte, wobei der ältere Meister der Augenheilkunde nicht wusste, dass der jüngere im gleichen Gewerbe tätig ist. Der ältere Optiker ging auch nicht davon aus, dass es meine Dioptrien-Werte seien, sondern ordnete sie dem jungen Mann zu, also meinem Optiker.

Es war eine wahnsinnig komische Situation, die mit dem nicht unwichtigen Rat des älteren Optikermeisters an seinen jüngeren Kollegen endete: „Tragen Sie die Brille immer, sonst sind Sie mit 70 Jahren blind!“ Immerhin weiß ich jetzt, was zu tun ist.

Passend zur aktuellen Corona-Epidemie, die in ihrer tragischsten Form unser aller Sterben bedeuten würde, wird zum Ende des Monats die beliebte Familienserie „Lindenstraße“ abgesetzt. In den verbleibenden vier Folgen werden einige Protagonisten der Serie höchstwahrscheinlich durch bestialische Morde oder die eine oder andere Unachtsamkeit ums Leben kommen. „Mutter Beimer“ hat es am letzten Sonntag gerade noch mal so geschafft, das Virus wird ihr aber wohl den Rest geben.

Als kleiner Bub lauschte ich früher den Erzählungen meiner Oma. Im Krieg fuhr sie zum Hamstern mit dem Rad aufs Land. Dort tauschten die Stadtmenschen bei den Bauern Teppiche, Porzellan oder Silberbestecke gegen Gemüse, Eier, Kartoffeln, Milch oder Butter ein. Mein Vater meinte mal, viele Bauern hätten dabei ein gutes Geschäft gemacht, und die Notsituation der Menschen oft ausgenutzt. Wenn ich jetzt häufig lese, dass es den Bauern finanziell gar nicht mehr so gut geht, ertappe ich mich dabei, eine klitzekleine Schadenfreude zu empfinden, weil sie damals meine Oma über den Tisch gezogen haben. Als ich in den 1960er Jahren mit meinen Eltern einen Urlaub auf einem Bauernhof verbracht hatte, habe ich beim letzten Frühstück heimlich einen Kaffeelöffel eingesteckt, weil ich damals annahm, der hätte ganz früher meiner Großmutter gehört.

Mein letzter, unaufgeregter Panikkauf im Supermarkt fiel übrigens mehr als bescheiden aus: 500 Gramm Vollkornbrot, drei Kilo Waschpulver und ein Stück Seife. Ich weiß, Hamstern geht anders, aber ich lebe jeden Tag, als wäre es der letzte.

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