90 Jahre Ein Experiment: 365 Tage am Ort

Peter Kowald schenkte sich 1994 zu seinem 50. Geburtstag ein Jahresprojekt, das bis heute wirkt.

 Noch heute gehen verschiedene Musiker im „Ort“ ein und aus. Regelmäßig finden an der Luisenstraße 116 Konzerte und Lesungen statt.

Noch heute gehen verschiedene Musiker im „Ort“ ein und aus. Regelmäßig finden an der Luisenstraße 116 Konzerte und Lesungen statt.

Foto: Fischer, Andreas H503840

Er war in der ganzen Welt zu Hause, ein Rastloser und ein ausgezeichneter Kontrabassist und Tubist, der sich dem Free Jazz und der Improvisierten Musik verschrieben hatte. Der, als er 1994 50 Jahre alt wurde und auf fast 30 Jahre Konzertreisen zurückblickte, sich selbst ein besonderes Geschenk machte. Ein Jahr lang, vom 1. Mai 1994 bis 30. April 1995, reiste der Wuppertaler Peter Kowald nicht, blieb (bis auf wenige Ausnahmen) wirklich zu Hause, holte sich die Welt, vornehmlich die der Künstler, in sein Haus an der Luisenstraße 116. Das Experiment „Die 365 Tage am Ort“ ist in die Geschichte eingegangen und wirkt, auch nach Kowalds plötzlichem Tod 2002, bis heute fort. Nicht nur in der nach ihm benannten Gesellschaft, die seine Ideen weiterträgt.

Beginn einer
langjährigen Freundschaft

Anne-Kathrin Reif lernte Kowald als Kunststudentin in den 80er Jahren kennen, bei einem Konzert kam man ins Gespräch, Beginn einer langjährigen Freundschaft. Heute verantwortet sie die Öffentlichkeitsarbeit der Peter Kowald Gesellschaft. „Für Peter stand die Musik immer an erster Stelle, aber nicht losgelöst, sie war Medium, über das er sich mit der ganzen Welt vernetzte. Er war ein großer Teil der Weltoffenheit Wuppertals.“ Als er am 21. April 1994 50 wurde, zog er Zwischenbilanz, beschloss, sich ein Jahr lang nur so weit von Zuhause weg zu bewegen, wie dies mit seinem dreirädrigen Fahrrad möglich war. „Die Vorstellung von einer Zeit ohne Reisen“ sei aufgetaucht, schrieb er später (Almanach ‚365 Tag am Ort’ 1998) und die Erkenntnis, dass er zwar „vielfältige Austausche und mannigfaltige Erfahrungen“ in der Welt erlebt hatte, aber „die meisten in unserer durchaus angenehm funktionierenden Nachbarschaft ... noch nie ein Stück Musik von mir gehört“ hatten. Also renovierte er seinen studioähnlichen Arbeitsraum in dem Mehrfamilienhaus an der Luisenstraße, das ihm zusammen mit Klaus Bocken gehörte (der heute zweiter Vorsitzender der Kowald-Gesellschaft ist). Der zwölf Meter lange und sechs bis acht Meter breite Raum bot Platz für Akteure und etwa 70 Leute. Nach draußen hängte er das Schild „Ort“, was Bezeichnung und Programm zugleich war. Reif: „Er hatte nicht vor, eine kreative Pause einzulegen“, sondern bot Künstlern einen Ort, um kreativ zu werden.

Jeden Samstag trafen sich hier nun Musiker mit ihm, um ein improvisiertes Konzert für Nachbarn und Freunde zu geben. Außerdem bot er vor allem jungen Musikern eine Plattform – woraus das Ort-Ensemble entstand, das mit acht Mitgliedern anfing und auf 20 wuchs. Die Wuppertaler Geigerin Gunda Gottschalk etwa kam damals zum Ensemble, fand hier ihren eigenen Weg zur Improvisation. Zusammen mit Xu Feng Xia bildete sie das Basistrio von Peter Kowalds „Global Village“-Ensemble, das Musiker verschiedener kultureller Herkunft vereinte.

Doch Kowalds Interesse war weiter gesteckt. Er war auch anderen Sparten gegenüber offen. Und so fanden neben 64 Konzerten auch 13 Ausstellungen, zehn Lesungen und 14 öffentliche Gespräche im Ort statt, listet Reif auf und nennt bekannte Künstlernamen wie Butch Moris und Evan Parker, Carlos Zingaro, Sainkho Namchylak, Jeanne Lee, Malou Airaudo, Jean Sasportes und Julie Stanzak, die teilweise von auswärts anreisten. Ernst von Weizsäcker (damals noch Wuppertal Institut) erläuterte sein Konzept eines wirtschaftlich profitablen Umweltschutzes, und der Documenta-Künstler Felix Droese schuf gleich zu Anfang des Jahresprojekts eine Installation, die für viele Diskussionen sorgte. Seine „Ozonlöcher über Konzentrationslager“ bestand aus zwei in Augenhöhe an den Hauswänden angebrachten Emailleschildern, an denen ineinander geschlungene Autoreifen und Treibriemen von Industriemaschinen befestigt waren, die er über die Straße spannte. Darauf stand gut lesbar: „Ich weiß nichts“ und „Es denkt mich“.

Mehr Anfragen
als Einladungen

Droese sei ein Mahner, der scharf zum Denken anhalte, „damit wir handlungsfähig werden können“, schrieb Kowald. „Nach den ersten aktiven Wochen und ruhigen Sommermonaten“, zog Kowald später Bilanz, habe „der Kreislauf der Aktivitäten derartig an Tempo“ zugelegt, „dass ich nicht so recht dagegen schwimmen konnte und mich mitreißen ließ“. Dabei übertraf die Zahl der Anfragen, meist durch Nachbarn, deutlich die der Einladungen. Wodurch die 365 Tage „einen ziemlichen Potpourri-Charakter“ hatten.

Pünktlich zum 30. April 1995 endete das Projekt, nahm Kowald sein rastloses Leben wieder auf. Das ihn zunehmend anstrengte, weshalb er kürzer treten und den Ort wieder für Veranstaltungen herrichten wollte, erinnert Reif. Der Tod vereitelte den Gedanken. „Das war ein Schock für die Stadt, die Blumen türmten sich vor der Tür des Ort.“ Bereits Ende 2002 fanden sich im Schauspielhaus Freunde und Musiker zusammen, um in Kowalds Geist zu wirken, heißt: Raum für kreative Freiheit zu geben. Und so wurde Kowald erneut zum Bindeglied für Menschen, die sich vorher nicht kannten, sich zum Verein „Peter Kowald Gesellschaft“ zusammenschlossen, der heute etwa hundert Mitglieder zählt. Zu seinen Aufgaben zählen monatliche Konzerte, Filmabende, Kooperationen mit Tanz und bildender Kunst, Ausstellungen. Einmal im Jahr veranstaltet er ein Festival und einmal im Jahr beherbergt er vier Wochen im Ort einen artist in residence. Der Ort ist als Spielstätte mehrfach ausgezeichnet worden, der Verein hat mittlerweile eine eigene „glorreiche Geschichte“ und ist immer noch offen für und neugierig auf Menschen.

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