Die Erzählung vom „deutschen Manchester“

Wie Ferdinand Gustav Kühne einen kühnen Vergleich erfand.

Die Erzählung vom „deutschen Manchester“
Foto: A. Hammer

Barmen und Elberfeld, die „Boomtowns“ der Frühindustrialisierung in Deutschland, galten vielen Zeitgenossen als urbane Symbole des damaligen Aufbruchs in eine aufregend neue Epoche: in das industriekapitalistische „lange 19. Jahrhundert“, jener „Schwellenzeit“ zur Moderne, die den Menschen Hoffnungen und Ängste zugleich bescherte und die uns mit ihren Widersprüchen und Brüchen heute vermutlich näher steht als das vorige Jahrhundert.

Besucher nannten Elberfeld gern auch das „deutsche Manchester“ und lagen damit richtig und falsch zugleich. „Der erste Fabrikplatz Englands hat mit dem ersten Fabrikort Preußens sehr vieles gemein. Auch Manchester hat die nächsten Flecken und Dörfer in sich eingeschlossen, oder soll man sagen, seinen Stadtumkreis auf sie ausgedehnt. Manchester ist erst seit hundert Jahren so bedeutend angewachsen, und Elberfeld mit seinen 40.000 Menschen war vor zweihundert Jahren ein Ort der 800 Seelen gewesen. In beiden ist neben Reichtum zugleich so viel Elend und Armuth.“ Das schrieb im Jahre 1847 der Leipziger Verleger und schwer angesagte Journalist Ferdinand Gustav Kühne in einem Beitrag für sein Blatt „Europa — Chronik der gebildeten Welt“, welches gepflegte Reiseberichterstattung mit tagespolitischen Beiträgen und Kommentaren für ein bürgerliches Lesepublikum verbinden wollte. Kühne galt in den vierziger Jahren als einer der aufmüpfigen Vertreter der „jungdeutschen Bewegung“, zu der unter anderem auch Heinrich Heine zählte, die Biedermeier und Restauration und damit die moralische und politische Ordnung einer ganzen Epoche zu den Akten legen wollte. Der Sohn eines Holzhändlers aus Magdeburg war zugleich ein durchaus erfolgreicher Schriftsteller, der mit dem schönen Titel „Quarantäne im Irrenhaus“ einen reichlich wortgewaltigen und viel gelesenen Beitrag zum kritischen Zeitgeist leistete.

Einer, der sich in Manchester damals aber besser auskannte, war der Barmer Unternehmersohn Friedrich Engels. Er hatte das Elend der Arbeiterslums von „Little Ireland“ in Manchester und Salford mit eigenen Augen gesehen und genauestens analysiert. Die Industrie-Agglomeration im Nordwesten Englands galt ihm als steingewordener Nachweis der zerstörerischen Kraft eines schrankenlosen Kapitalismus. Tatsächlich: Die Shock-City Manchester „überragte“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine vermeintlich deutsche Variante in Sachen Wachstum, Armut, ökologische Verwüstung, aber auch Reichtum und Wohlstand um Längen: Es war 1850 mit 400 000 Einwohnern schließlich zehnmal so groß wie Elberfeld. Und nicht zuletzt war dieses Manchester, die Coke-Town (Charles Dickens), auch der Ort, an dem sich die verarmten Industrieproletarier zumeist irischer Herkunft solidarisierten, gewerkschaftlich organisierten und für ihre Belange auf die Straße gingen: strikes und Polizeiknüppel inklusive.

Kühne aber, der „Erfinder“ des Narrativs vom „deutschen Manchester“ und leitende Redakteur des feinen „Magazins für die elegante Welt“ hatte es selbst nie bis Manchester geschafft, aber für die ersten sozialistischen Versammlungen in Elberfeld ab 1845 allenfalls Spott übrig. Wen wundert es da, dass Friedrich Engels keine sonderlich gute Meinung von ihm hatte und ihn beiläufig einen ziemlich „zahmen liberalen Literaten“ nannte.

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