Die Anerkennung für Theater wächst

Regisseur Hüster und Intendant Braus schätzen den Autoren Melle und die körpersprachliche Erzählweise — das ist gut für Wuppertals Schauspiel.

Die Anerkennung für Theater wächst
Foto: Wuppertaler Bühnen

(Fast) Totgesagte leben länger. Ihre „extrem stilisierten Szenen und Bilder treffen tief ins Herz, stoßen zugleich philosophische Diskurse an“, schreibt das überregionale Theaterfeuilleton-Portal „Nachtkritik“ anerkennend über die Wuppertaler Inszenierung von Thomas Melles „Bilder von uns“. Lobt namentlich die Arbeit von Regisseur Henri Hüster und Choreographin Sylvana Seddig. Und sorgt dafür, dass sich die Wuppertaler Bühnen unter den Top Ten der deutschsprachigen Theater wiederfinden. „Ich war schon sehr überrascht. Das ehrt mich natürlich und beschreibt sehr gut, was wir wollen. Mehr kann man nicht erreichen“, sagt Hüster und ergänzt: „Das freut mich natürlich auch für Wuppertal. So nehmen die Leute auch von außerhalb wahr, dass hier spannendes Theater gemacht wird. Intendant Thomas Braus leistet tolle Arbeit.“

Henri Hüster ist schon lange Melle-Fan, „weil er Figuren in einem Plot, wie in einem Krimi, agieren lässt und zugleich eine größere, philosophische Sicht auf ihre Identität“ hat. Im Fall des 2016 veröffentlichten Stücks „Bilder von uns“ spielt der Autor auf die Missbrauchsfälle am Aloisiuskolleg in Bad Godesberg an, jener von Jesuiten geführten Bildungseinrichtung, die er selbst besuchte. Thomas Braus: „Melle ist einer meiner Lieblingsautoren. Ich schätze seine Prosa, seine Dramatik. Für mich war schon früh klar, dass ich ihn spielen wollte.“ „Bilder von uns“ wählte Braus des Themas wegen aus, und weil es zeigt, „wie Menschen Bilder von sich selber machen, mit ihren Realitäten umgehen“. Auch Hüster schwärmt: „Melle erzählt spannend einen wirklichen Konflikt. Der Zuschauer wird zum Nachdenken gebracht, auch wenn er persönlich keinen Missbrauch erlebt hat.“

Die Wuppertaler Inszenierung, die Hüster mit Hanna Rode (Bühne, Kostüme, Maske) erarbeitet hat, setzt auf zwei Extremzustände: Den Menschen als göttliche Erscheinung und den Menschen im Schmerz, der seine Identität verliert. Die Schauspieler erstarren zu Statuen, verstecken sich hinter Masken, werden hin und her geschleudert, während sie noch versuchen, eine gute Figur abzugeben. Hüster wählt den Vorhang, den man weg-, aber auch davor ziehen kann, als zentrales wie naheliegendes Stilelement für die krampfhafte Suche nach dem geltenden Selbst-Bild.

Kurz vor dem Sommer 2017 begannen die Proben mit dem Schauspiel-Ensemble. Die ersten unter der Intendanz von Thomas Braus. Zunächst wurde vor allem improvisiert, um die Frage zu klären, „was ihre Körper in diesem Raum machen“, erklärt der Regisseur. Die bewusste Körperlichkeit, die mit Unterstützung der Choreographin Sylvana Seddig ins Stück Eingang fand, ist dem Regisseur besonders wichtig: „Durch sie erhält das Theater seine totale Notwendigkeit, sein Alleinstellungsmerkmal“, betont er, ist sich darin mit Braus einig, der über das klassische Erzähltheater hinaus nach Ansätzen sucht, den Text eines Stücks vielschichtiger zu erzählen. Hüsters Gedanke, „über Statuen eine Körperlichkeit zu erzielen“ gefiel ihm auf Anhieb: „Mich interessiert, welche Idee ein Regisseur hat, um über eine naturalistische Spielweise in eine andere zu kommen, Bewegungsmuster aufzureißen“, sagt Braus.

Über ein Philosophiestudium und Schauspielhausassistenzen in Österreich kam der gebürtige Berliner Hüster (Jahrgang 1989) zum Theater, studierte bis 2016 Regie an der Theaterakademie Hamburg, gewann im selben Jahr den Start-Off-Wettbewerb mit einem Konzept für die Bühnenadaption von Rainald Goetz’ Roman „Irre“. Thomas Braus und Dramaturgin Barbara Noth sahen sich seine Aufführung Anfang 2017 in der Hansestadt an. Man kam ins Gespräch, das vertieft wurde, als Hüster wiederum Braus in seinem Soloprogramm über Dante in Wuppertal sah. „Ich wollte einen jungen Regisseur mit eigenem, auch körpersprachlichem Ansatz. Ich bin froh, dass Hüster das gemacht hat“, erzählt der Intendant.

Die Nominierung durch die „Nachtkritik“ bestätigt nachträglich die Entscheidung für Hüster und die gute Arbeit von Braus selbst, für seine noch junge Theaterleitung. Weil die Inszenierung überdies eine „sehr positive Resonanz beim Publikum“ und einen „sehr guten Kartenverkauf“ erfährt, der Zusatzvorstellungen notwendig gemacht hat, kann sich Braus einfach nur freuen: „Ein anderer Blick auf die Stadt, die nicht im Tal versinkt, sondern positiv wahrgenommen wird.“ Das Schauspiel ist auf dem Weg nach oben, mit viel Lust am Spiel, mit Thomas Braus und wohl auch Henri Hüster. (Einstmals) Totgesagte leben eben länger.

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