Geschichte Pauperismus und Massenarmut – prekäres Leben im 19. Jahrhundert

1830 brauchte die Hälfte aller Barmer finanzielle Unterstützung.

 Detlef Vonde ist Historiker und Leiter der Politischen Runde der Bergischen Volkshochschule. Er publiziert zu Themen der Urbanisierungsgeschichte, Bildungs- und Sozialgeschichte sowie zur Geschichte des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes.

Detlef Vonde ist Historiker und Leiter der Politischen Runde der Bergischen Volkshochschule. Er publiziert zu Themen der Urbanisierungsgeschichte, Bildungs- und Sozialgeschichte sowie zur Geschichte des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes.

Foto: Anette Hammer/Anette Hammer/Freistil Fotografi

Weihnachten? Die gemütliche Zeit ist schon wieder vorbei. Viele denken gern auch an biedermeierliche Gemütlichkeit, wenn die Rede vom frühen 19. Jahrhundert ist. Richtig und falsch zugleich. Die Behaglichkeit des Biedermeier bis um 1848 konnten nur wenige, etwa das allmählich selbstbewusst werdende Besitz- und Bildungsbürgertum dieser Zeit, wirklich genießen. In anderen gesellschaftlichen Milieus ging es dagegen deutlich weniger behaglich und friedvoll, sondern eher rau und prekär zu. Ob Kötter, Tagelöhner, Heimgewerbetreibende, Wander- oder Fabrikarbeiter, sie alle lebten selbst in den Orten, wo der industrielle Fortschritt dominierte, am Rande des Existenzminimums.

„Hungry Forties“

Armut war nicht neu. Überbevölkerung und Unterbeschäftigung waren bis ins 18. Jahrhundert die Ursachen dafür, dass die Menschen hungerten und darbten. Das dauerte bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts, als aus den traditionellen Hungerkrisen der vorindustriellen Zeit die Konjunkturkrisen des Kapitalismus wurden, die in der Textilindustrie in der Regel dem besonderen Umstand folgten, dass das traditionelle Heimgewerbe durch die Fabrikproduktion verdrängt wurde. Die Marktgesetze lösten auf einmal alte soziale Bindungen wie die Zunftverfassung ab, in der eine „sittliche Ökonomie“ und eine „Kultur der Armut“ der Menschen, die nicht mithalten konnten, durchaus ihren Platz fand. Viele glaubten, dass diese Massenarmut der „natürliche“ Preis für die neue Gewerbefreiheit sei und alsbald durch die Fabrikproduktion überwunden sein würde. Doch der „Pauperismus“ – eine Wortschöpfung dieser Zeit- war nicht so einfach zu überwinden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten bis zu 20 Prozent der Menschen in Elberfeld und Barmen Zuwendungen aus der Armenunterstützung. 1830 stellte der Stadtrat von Barmen sogar fest, dass fast die Hälfte der Einwohner ohne Unterstützung nicht leben könnte. Die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts gingen in ganz Europa nicht ohne Grund als die „Hungry Forties“ in die Geschichte ein: Folgen von Missernten, aber auch der Niedriglohnpolitik der Unternehmer und der neuen Konjunkturkrisen.

Kinder ohne Kindheit

Das betraf überall und zuallererst die Kinder und zwar besonders die Waisenkinder, solche aus unvollständigen Familien oder aus Großfamilien, also die Mehrzahl. Eine fünfköpfige Arbeiterfamilie etwa hatte Ende der vierziger Jahre einen errechneten Mindestbedarf von 4 Talern pro Woche, ein Lohn, der aber im Tal lediglich von den Türkischrot-Färbern 1848 in frühen Arbeitskämpfen erstritten werden konnte. Ein Weber dagegen brachte wenige Jahre zuvor noch nicht einmal die Hälfte davon pro Woche mit nach Hause. Damit nicht genug. Die große Mehrheit der Heimweber schaffte es mit Mühe auf 30 Silbergroschen (knapp 1 Taler). Kinder - und sie stellten rund zwei Drittel der Beschäftigten in der expandierenden Textilindustrie - verdienten bestenfalls 24 Silbergroschen in der Woche. Betroffen vom Pauperismus war aber nicht nur das Proletariat, sondern auch das hoffnungslos überfüllte traditionelle Handwerk. Von 1100 Schustern zum Beispiel war 1845 die Hälfte ohne jede Beschäftigung und lebte prekär. „Kinder ohne Kindheit“ arbeiteten seit frühesten Jahren stundenlang in der Fabrik. Erst 1839 wurde, als sich ein zwölfjähriges Mädchen in einer Spinnerei umgebracht hatte, die Kinderarbeit durch ein königliches Regulativ eingedämmt, aber trotzdem nicht wirklich abgeschafft. Es fehlte schlichtweg die notwendige Kontrollinstanz. Immerhin wurde der Arbeitstag für Kinder unter 16 künftig auf 10 Stunden begrenzt. Der Staat griff gelegentlich in den Laissez-Faire-Kapitalismus ein, wenn auch nur in homöopathischen Dosen. Während die einen bei Festbanketten glänzten, um sich anschließend in pietistischer Frömmigkeit zu ergehen, kämpfte die Mehrheit in Barmen und Elberfeld ums nackte Überleben. Der junge Wuppertaler Amerika-Auswanderer Hermann Enters etwa beschrieb diesen Gradwandel rückblickend als „zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben.“ Es gab zwar durch Spenden und Steuerumlagen finanzierte Armenunterstützung und Arbeitsbeschaffung. Aber diese wirkten nur punktuell, bis das Revolutionsjahr 1848 schließlich die Tumulte auf die Straße brachte.

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