Der Geschichtensammler, der im Taxi immer vorne sitzt

Heute erscheint Jochen Rauschs neues Buch: Jede der 120 Geschichten ist maximal 25 Zeilen lang, trotzdem passt ein ganzes Leben hinein.

Der Geschichtensammler, der im Taxi immer vorne sitzt
Foto: Jochen Rausch

Wuppertal. „Und?“ Mehr braucht Jochen Rausch nicht, um ins Gespräch zu kommen. Manchmal hängt er noch ein „Wie isset?“oder „Schöner Wagen“ dran, spätestens dann fließt die Geschichte des Mannes oder der Frau neben ihm. Vor fünf Jahren hat der WDR-Radiomanager das Autofahren so gut wie aufgegeben hat („ich hatte die tägliche Gurkerei von Wuppertal nach Köln satt“), deshalb bewegt sich der 60-Jährige zwangsläufig häufiger im Taxi fort — „irgendwann habe ich gemerkt, dass die Fahrer gute Geschichten erzählen“. Seitdem steigt er immer vorne ein.

„Mit Leuten ohne Geschichten kommt man gar nicht erst ins Gespräch“, sagt er. Bei den anderen ist die Ausbeute dafür umso reicher. Aus rund 200 Taxifahrten hat Jochen Rausch 120 Geschichten mitgenommen und sie literarisch verdichtet: „Ich tippe sie nach dem Aussteigen in mein Handy und bearbeite sie möglichst zeitnah.“ Vorführen will er niemanden: Wenn jemand in einem ungünstigen Licht erscheinen könnte, hat er Stadt und Story abgewandelt.

„Im Taxi“ ist sein fünftes Buch seit 2008. Passend zu den Fahrtstrecken hat er sich diesmal für Kürzestgeschichten entschieden, maximal 25 Zeilen oder 90 Radiosekunden lang. Trotzdem passt oft ein ganzes Leben rein — erschütternde Familiendramen und bizarre Mutter-Sohn-Konstellationen, Schlawinerstückchen und Scherzkekse, Wutausbrüche über die geschiedene Frau und die verlotterte Gesellschaft, ewig unerfüllte Hoffnungen auf eine Musiker- oder Schriftstellerkarriere, abgeknickte Lebenswege: „Ich habe keinen getroffen, der Taxifahrer werden wollte.“

Die Intensität dieser Geschichten, selbst wenn sie nicht zum ersten Mal erzählt werden, ergibt sich aus der speziellen Situation, in der zwei Fremde für kurze Zeit auf engstem Raum zusammensitzen. Da stellt sich leicht eine unverbindliche Vertrautheit ein.

Die Miniaturen bleiben haften, ob von Senioren mit mickriger Rente oder von Flüchtlingen die Rede ist: „Ich sage meinen Freunden in Ägypten: Ja, kommt her. Das Wetter ist zwar schlecht, aber gerade ist Demokratie.“

Dazu gelingt es dem Autor, die individuelle Redeweise eines Taxikutschers rüberbringen und zugleich den typischen Rausch-Sound drunter zu legen — lakonisch, präzise und mit einem subkutanen Lächeln, wenn es zur Story passt.

In seinem Panoramablick auf eine bestimmte Schicht verübelt er keinem etwas, auch wenn der über Flüchtlinge herzieht oder die DDR samt Mauer verherrlicht. „Das ist doch interessant“, sagt Rausch. Er gerate in Gespräche, die er im Sender nicht habe — „dabei reden doch alle darüber, wo denn die normalen Leute in den Medien stattfinden“.

Neben den traditionellen Lesungen — wie am 20. Januar in Wuppertal — sind die Taxi-Geschichten medial bestens eingebettet. Seit dem Sommer laufen sie samstags auf WDR5, eingelesen hat sie der Schauspieler Johann von Bülow. Mit ihm ist Rausch auch am 10. März auf der Lit.Cologne, die Veranstaltung ist bereits ausverkauft.

Zu einigen Geschichten hat Rausch mit dem Smartphone Videoclips gedreht: „Eine neue Form, Literatur mit Visualisierung zusammenzubringen.“ Den Text kann man nicht nur hören, sondern auch als Untertitel mitlesen — „viele Leute haben auf ihren Handys den Ton abgestellt“. Das hat er in der Bahn gesehen. Meist nimmt er den langsameren Zug zum Arbeitsplatz in Köln: „Erstens bekomme ich einen Sitzplatz, zweitens habe ich mehr Zeit zum Schreiben.“

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