Theater Der ganz normale Wahnsinn

Thomas Braus macht aus Nikolai Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ einen großartigen Solo-Abend.

Theater: Der ganz normale Wahnsinn
Foto: Sebastian Eichhorn

Das Leben ist manchmal eine Zumutung. Der Chef, dieser ignorante Wicht, macht einen nieder. Das Wesen, das man anhimmelt, ignoriert einen komplett. Es ist zum Verrücktwerden — und manche werden es tatsächlich, wie der kleine Ministerialbeamte Poprischtschin in Nikolai Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“.

Der Schauspieler Thomas Braus macht aus der Erzählung des Russen, der sich 1852 mit 42 Jahren im religiösen Wahn zu Tode gehungert hat, einen beklemmend intensiven Theaterabend, seine diesjährige Visitenkarte. Er hat den Text verdichtet zum einstündigen Monolog und mit sich selbst Regie geführt.

Sein Kollege Uwe Dreysel hat dazu eine Klangumgebung aus Vibrafon- und Klingeltönen mit rumpelndem Baustellenlärm geschaffen, ein diffuses Störgeräusch. Bühnenmeister Wolfgang Heidler, eigentlich seit Herbst im Ruhestand, stellt ihm einen Kasten ins Theater am Engelsgarten, drehbar, außen schwarz, innen grell erleuchtet.

Ein Mensch, gefangen in seiner kleinen Welt. Mit einem Stuhl ist der aufrecht stehende Quader vollgestellt, jede Umkleidekabine ist größer.

Doch Braus macht daraus eine große Bühne, er steht darin stramm, verzweifelt, wütet, wühlt in Blätterstapeln, die ihm doch keine Erkenntnis bringen. Poprischtschin mit seinen 42 Jahren wäre so gern Teil des Systems. Wieso macht er keine Karriere, schließlich spitzt er die Bleistifte im Büro des Staatssekretärs an wie kein anderer?

Doch das System stößt ihn so erbarmungslos zurück wie die Tochter des Staatssekretärs. Einsam ist er, sieht weder Sinn noch Perspektive, sein Geist macht sich selbstständig. Schon hört er den Hund der Verehrten mit einem anderen über gegenseitige Briefe plaudern. Ha, diese Hundekorrespondenz muss der Schlüssel zu allem sein!

Braus lässt es nur folgerichtig wirken, dass sich der Beamte diese Papiere beschafft — und daraus erfährt, dass sie einen anderen heiratet. Weidlich nutzt der Schauspieler seinen Kasten aus. Er spielt mit dem eigenen Schatten, er klemmt sich unter die Decke, müht sich mit dem Besteigen der Außenwände.

Auch Poprischtschins Hirn schlägt immer akrobatischere Volten, das Ordnungssystem verrutscht. Plötzlich ist der 86. März, und ihm wird alles klar: Er ist der spanische Thronfolger, er ist Ferdinand VIII.. Jetzt kann ihn keiner mehr übergehen, keiner mehr missachten.

Wie befreit wirkt der Mann, selbst als man ihn ins Irrenhaus einliefert. Da kommt er aus seinem Kasten heraus, da wechselt sein Geist schon mal die Richtung. „Sie verstehen mich gar nicht“, sagt Poprischtschin am Ende resginiert.

Oh doch, wie der sehr langanhaltende Beifall bewies.

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