Interview „Befreiung von der Schuld gibt es nur über Transparenz und Aufarbeitung“

Wuppertals Stadtdechant Bruno Kurth spricht über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche.

Stadtdechant Bruno Kurth mit einer Reliquie des Heiligen Laurentius.

Stadtdechant Bruno Kurth mit einer Reliquie des Heiligen Laurentius.

Foto: Uwe Schinkel/Schinkel, Uwe (schin)

War der vergangene Dienstag der Befreiungsschlag für die katholische Kirche?

Kurth: Nein. Befreiung von dieser Schuld gibt es nur durch Transparenz, Verantwortlichkeit, Präventionsarbeit und durch die Aufarbeitung der Verbrechen.

Wie haben Sie den Tag der Pressekonferenz erlebt?

Kurth: Wie vermutlich viele in unserer Kirche. Man fiebert darauf hin, man ist angespannt, und dann haben wir die Pressekonferenz sehr genau verfolgt.

Wie haben Sie die Konferenz empfunden?

Kurth: Der durch die Studie belegte Umfang der Missbrauchsfälle ist erschütternd. Das Thema ist entsetzlich, aber nicht mehr überraschend. Wir befassen uns damit schon seit einigen Jahren. Vielleicht ist mein Zugang noch ein bisschen anders, weil ich auch einzelne Betroffene kenne.

Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Kurth: Das ist unterschiedlich. Es gibt Betroffene, die begleite ich und versuche so gut zu helfen, wie es geht. Von anderen weiß ich sicher, dass ihnen geholfen wird.

Sie haben die Taten entsetzlich genannt. Können Sie den Tätern verzeihen?

Kurth: Ich bin nicht in der Position derer, die verzeihen, ich bin kein Betroffener. Und Sünden verzeihen, das kann nur Gott.

Wie reagieren Sie, wenn Ihnen jemand so eine Sünde beichtet?

Kurth: Mir sind schon Verbrechen gebeichtet worden, auch sexuelle Vergehen. Aber ein Missbrauch noch nicht, erst recht nicht an Minderjährigen. Wenn, dann würde ich versuchen, den Täter dazu zu bringen, sich der Wahrheit und dann auch den Behörden und einem Strafverfahren zu stellen.

Was muss Ihre Kirche nach all den Erkenntnissen in der Studie Ihre Kirche jetzt tun?

Kurth: Ich erwarte eine Reihe von Maßnahmen, zum Beispiel die vollständige Aufarbeitung der bekannten Fälle. Die sollen ja laut unserem Bischof Kardinal Woelki auch noch einmal von unabhängigen Fachleuten untersucht werden. Außerdem erwarte ich, dass wir den in den vergangenen Jahren begonnenen Weg der Prävention fortsetzen. Das können wir, wenn es uns eine Herzensangelegenheit ist, Kinder und Jugendliche zu schützen. Papst Franziskus proklamiert null Toleranz gegenüber Missbrauch und allem, was ihn begünstigen kann.

Was konnte Missbrauch in der Kirche begünstigen?

Kurth: Dieser Frage müssen wir nachgehen. Missbrauch kommt zwar überall in der Gesellschaft vor, viele Fälle erschreckenderweise in Familien. Aber in der Kirche wurde oder wird er aufgrund besonderer Bedingungen begünstigt. Franziskus spricht vom Übel des Klerikalismus.

Sie meinen die Machtstrukturen der Kirche.

Kurth: Ja. Die Macht haben überwiegend die Kleriker, wir Geistlichen. Es gibt leider das, was die Forscher der Studie „männerbündische Strukturen“ nennen. Zur Machtausübung gehörte , dass der Schutz des Prestiges der Kirche in vielen Fällen über dem Schutz der Opfer stand. Hinzu kam, dass es lange Zeit an unabhängigen Ansprechpersonen gefehlt hat. Die katholische Kirche hatte für solche Fälle keine Beschwerdewege und wohl auch eine unterentwickelte Beschwerdekultur.

Was ist mit dem Tabu von Sexualität in der katholischen Kirche?

Kurth: Sexualität, die tabuisiert wird und über die nicht offen gesprochen werden kann, ist einer der Faktoren, und das sicher nicht unter „ferner liefen“.

Ist angesichts dessen der Zölibat noch zeitgemäß?

Kurth: Nach meiner Kenntnis stellt die Studie diese Frage auch. Es gibt eine Studie aus dem Jahr 2012, die besagt, dass es keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen den Missbräuchen und dem Zölibat gibt. Wir müssen meiner Meinung nach differenziert untersuchen, ob der alleinige Zugang von Männern zur Priesterweihe den Machtmissbrauch begünstigt hat, der sich in sexuellen Missbrauch ausgedrückt hat.

Also ist eher die Machtverteilung die Wurzel des Übels und nicht der Zölibat?

Kurth: Ja. Ich denke aber auch, dass der Pflichtzölibat ein Mantel für jene Priester sein kann, die keine ausgereifte Sexualität haben. Das ist dann eine Gefahr. Aber erschreckend ist doch, dass viele Täter offenbar keine gestörte Sexualität hatten, sondern die Tatursache im Machtmissbrauch lag. Das müssen wir gründlich und in aller Offenheit untersuchen.

Wie sehr leidet die Kirche unter dem Missbrauchskandal?

Kurth: Sehr. Die Verkündigung des Glaubens lebt von der Glaubwürdigkeit der Kirche. Und die ist jetzt erschüttert.

Wie können Sie diese Glaubwürdigkeit zurückgewinnen?

Kurth: Ich hoffe und bitte, dass wir uns Vertrauen neu erarbeiten können. Aber nur mit Betroffenheitserklärungen wird das nicht gelingen. Das geht nur durch klares und ausdauerndes Handeln. Deshalb ermutige ich jeden Betroffenen ausdrücklich, sich bei den Strafbehörden oder unseren unabhängigen Ansprechpersonen zu melden. Es kann den betroffenen Personen helfen, und es dient der Aufklärung.

Wird der Skandal die Kirche und auch den Vatikan verändern?

Kurth: Ich kenne den Vatikan nicht sehr gut. Es wird vermutlich lange dauern, so ein System zu verändern. Aber die Kirche wird sich verändern. Es hängt aber davon ab, dass insbesondere Bischöfe, aber auch Priester und Gemeindemitglieder sich klarmachen, dass Veränderung biblisch gesprochen Umkehr bedeutet. Sie ist ein beständiger Prozess. Konsequente Maßnahmen gegen die Täter und Verfahrensregeln gehören dazu wie tiefgreifende Verhaltensänderungen und eine wirkliche Hinwendung zu den Betroffenen. Sie ist Umkehr im Geist Jesu Christi.

Umkehr zu was?

Kurth: Grundsätzlich zu einer Kirche im Geist des Evangeliums Christi. Erste Anzeichen sind sichtbar geworden, die früher undenkbar waren. Es ist doch schon eine Veränderung, wenn etwa in Chile eine ganze Bischofskonferenz ihren Rücktritt anbietet, und Papst Franziskus einige Bischöfe absetzt. Das zeigt, dass Veränderungen kommen. Die Machtstrukturen sind nicht mehr unerschütterlich. Und in Zukunft müssen auch die Laien in unserer Kirche mehr zu sagen haben.

Auch Frauen?

Kurth: Was die Aufarbeitung und die Prävention angeht, dann geht das überhaupt nicht ohne Frauen.

Und was Ämter angeht?

Kurth: Papst Franziskus hat eine Kommission eingesetzt, die das Diakonat für Frauen prüfen soll. Das kann man als ersten Schritt betrachten.

Würden Sie katholische Priesterinnen begrüßen?

Kurth: Wenn Papst und Bischöfe die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe beschließen würden, würde ich katholische Priesterinnen gerne begrüßen. Derzeit kann ich mir das nicht vorstellen. Andererseits gehört die Nichtzulassung von Frauen zur Priesterweihe für mich nicht zum Glaubensgut der Kirche. Johannes Paul II. hat sie allerdings abschließend zur Glaubensfrage erklärt und beantwortet. Das macht es sehr schwierig. Viele Beispiele zeigen jedoch jetzt schon, was möglich ist, wenn wir Leitung und die vielen anderen Dienste in einer Gemeinde und in der Kirche neu verstehen und anders verteilen.

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