Premiere „Die Mitte der Welt“: Lieben, um den Winter zu vertreiben

Wuppertal · Der Jugendclub „Junges Theater Wuppertal“ beeindruckt bei der Premiere seines neuen Stücks im Theater am Engelsgarten.

 Die Plexiglasscheibe trennte das „Normale“ vom „Anderen“.

Die Plexiglasscheibe trennte das „Normale“ vom „Anderen“.

Foto: Robin Wiedemann

Tradition, Sicherheit und Familie. Das sind die Grundpfeiler der Gemeinde – zumindest aus Sicht der „Jenseitigen“, der kleinen Leute. „Und ohne normale Familien funktioniert die Gemeinde nicht!“ Aber was ist überhaupt normal? Sicher nicht die häufigen Männerbesuche bei Phils Mutter oder die Naturverbundenheit seiner verschlossenen Schwester. Und ebenso wenig, dass Phil neuerdings mit dem neuen Mitschüler Nicholas zusammen ist. Das zehnköpfige Ensemble des Jugendclubs des Wuppertaler Schauspiels zeigte am Mittwochabend erstmalig seine neue Produktion: eine eigens entwickelte und intensiv inszenierte Bühnenfassung von Andreas Steinhöfels Roman „Die Mitte der Welt“ – voller Wut, Zärtlichkeit und bitterer Lektionen über das Leben und die Liebe.

„Visible“ heißt das Anwesen, das mit seinen großen Fenstern das vermeintlich ungewöhnliche Leben von Phils kleiner Familie wie in einem Schaukasten ausstellt. Folgerichtig spielt sich das Bühnengeschehen vor und hinter einer hölzern gerahmten Plexiglasscheibe ab – einer Barriere, die das „Normale“ vom „Anderen“ trennt. Dass die Scheibe sich auf ihrem Podest drehen und wenden und ihre Transparenz sich durch Beschmieren und anschließendes provisorisches Säubern beeinflussen lässt, ist bereits ein Vorgeschmack darauf, dass das „normale Leben“ vielleicht nur eine Frage der Perspektive ist.

Übergriffige Auftritte jagen Schauer über den Rücken

Das gilt zumindest für den 17-jährigen Phil (Luca Völkel), der ein enormes Maß an Verständnis für die Eskapaden seiner Mutter (Isabell Jäger) zeigt. Wie Glass es ihm beigebracht hat, kümmert sich Phil nicht um das Gerede der „Jenseitigen“, die außerhalb von Visible leben – ganz im Gegensatz zu seinem neuen Freund Nicholas (Moritz Kettelmann) und seiner Zwillingsschwester Dianne (Victoria Di Bello), die immer wieder mit ihrer Mutter in Streitigkeiten um ihren Lebensstil gerät und unter dem Druck der „Normalität“ schließlich eine folgenschwere Entscheidung trifft. Für Phil bleibt die Familie, die ungewöhnliche Villa Visible, die Mitte seiner Welt. Wird er sich dennoch von ihr lösen können, um sein eigenes Leben führen?

Die übergriffigen Auftritte der „Jenseitigen“, die mit boshaftem Flüstern und aggressiver Körperlichkeit in die Privatsphäre von Phils Familie eindringen, jagen einem mehr als einmal einen Schauer über den Rücken. Obwohl sie für Prototypen stehen, gelingt es den jungen Darstellern zwischen 16 und 22, ihnen verschiedene Charaktere zu verleihen. Doch auch wenn sie gerade nicht in Aktion sind, treten die „Jenseitigen“ niemals ab, sondern bewegen sich im Bühnenraum, beobachten das Geschehen von Sitzplätzen am Spielfeldrand, kauen Kaugummi, lesen Zeitschriften. Diese dauerhafte Präsenz erzeugt eine Bedrohlichkeit, die von den Hauptdarstellern überzeugend aufgenommen wird.

Eine erfrischende Abwechslung zu zahlreichen Coming of Age-Geschichten ist die Nebensächlichkeit der Homosexualität des jugendlichen Protagonisten. Sie steht exemplarisch für die Andersartigkeit der Familie, könnte aber ebenso gut durch einen beliebigen anderen Aspekt ausgetauscht werden. So aber kommt das Publikum in den Genuss einiger poetisch choreografierter Liebesszenen, die ganz ohne Provokation auskommen, durch den gelungenen Einsatz von Licht und Musik jedoch eine intime Atmosphäre entfalten.

Der Zusammenhalt in Phils Umfeld beweist zunächst, „dass man liebt, um den Winter zu vertreiben“. Mehr und mehr kommt der Protagonist jedoch zu der Erkenntnis, dass Liebe – sei es innerhalb der Familie, in einer Freundschaft oder Beziehung – vor allem das Potenzial hat zu verletzen. „Jeder trägt dieses Messer“, ist sich Phil sicher. Das Licht wird in den Zuschauerraum gerichtet und hält dem Publikum mit Hilfe der Plexiglasscheibe für einen Moment wortwörtlich der Spiegel vor. Dann legt sich Dunkelheit über das mulmige Schweigen. Es dauert sicher eine halbe Minute, bis sich der erste zaghafte Beifall hören lässt, der danach jedoch noch lange andauert. Ein intensiver Theaterabend!

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