Aus dem Alltag eines Laienrichters: „Es gibt keine Tabus mehr“

Michael Kuhn ist seit vier Jahren Schöffe und hat sich für eine weitere Periode beworben. Ein Bericht über seine Erfahrungen.

Wuppertal. An seine erste Gerichtsverhandlung kann sich Michael Kuhn noch genau erinnern. Pünktlich um 9 Uhr saß er damals im Gericht, während die beiden Angeklagten durch Abwesenheit glänzten. Kurzerhand ließ man die Delinquenten von der Polizei vorführen. "Der eine war jedoch derart zugedröhnt, dass er der Verhandlung kaum folgen konnte", sagt Kuhn und schmunzelt.

Vier Jahre ist das her. Wer jetzt denkt, Kuhn sei Richter oder Anwalt, der irrt. Jedenfalls weitestgehend. Michael Kuhn ist Finanzbeamter. Einmal im Monat jedoch schlüpft der 39-Jährige in die Rolle des Laienrichters, im Strafgericht Schöffen genannt. Eine Aufgabe, die er überaus spannend findet. "Mir macht das einen Riesenspaß", schwärmt er, "das ist mir wie auf den Leib geschneidert."

Denn Kuhn, der sich seit 20Jahren für die Jugendarbeit beim WSV engagiert, hat sich denn folgerichtig auch für das Jugendgericht einteilen lassen. Hier kann der Vater eines Sohnes seine Erfahrung mit Jugendlichen bestens einbringen. Gegen das juristische Fachwissen des Richters setzt er seinen gesunden Menschenverstand und seine Intuition. "Man versucht es nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden", erklärt der engagierte Mann.

MichaelKühn über seine Erlebnisse als Schöffe am Amtsgericht.

Theoretisch haben die Schöffen dabei die Möglichkeit, den Richter zu überstimmen. Denn die Stimmen der Schöffen und des Richters zählen gleich. "In der Praxis habe ich das jedoch noch nie erlebt", sagt Kuhn. Zwar gebe es Fälle, über die man länger diskutiert als über andere und "den Richter mit der eigenen Einschätzung zum Nachdenken anregt", aber am Ende sei vieles "im Einklang" entschieden worden.

Michael Kuhn schätzt die Tätigkeit als Schöffe nicht nur, weil sie in seinem Leben eine Abwechslung bedeutet. "Gerade beim Jugendgericht versucht man, die Angeklagten weniger zu bestrafen als zu erziehen, sie auf einen besseren Weg zu bringen."

Oft sei er jedoch schockiert von der Gewalttätigkeit der Jugendlichen. "Es gibt fast nichts mehr, das ich mir nicht vorstellen kann - keine Tabus mehr", sagt er ein wenig resigniert. Die Schwelle zur Gewaltbereitschaft nehme immer weiter ab. "Das ist schon sehr erschreckend", räumt er ein. Dass viele der Delikte, über die verhandelt wird, von Menschen mit Migrationshintergrund verübt werden, lasse sich dabei nicht leugnen. "Insgesamt spiegeln die Fälle das Leben mit all seinen Schicksalsschlägen jedoch sehr gut wider."

Eine Verhandlung hat sich dabei besonders in sein Gedächtnis gebrannt. Angeklagt war ein Flüchtling aus Albanien, der gleich bei seiner Ankunft in einem Essener Aufnahmelager von Landsmännern erpresst und zum Drogendealen gezwungen wurde. "Der hat das Land noch gar nicht gesehen, da wurde er schon verhaftet und hat ein Gericht beschäftigt..."

Seine erste Periode als Schöffe neigt sich nun dem Ende, doch Michael Kuhn hat sich für eine zweite beworben. Und ist gespannt auf weitere spannende Fälle.

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