Was glauben Sie denn? „Auge um Auge…“ – ein missverstandener Bibelvers

Viele Christen kennen diesen Vers aus der Hebräischen Bibel, weil Jesus von Nazareth ihn neben anderen in der Bergpredigt (Mt. 5,17ff) zitiert. Eigentlich ist es gute Sitte, Zitate nicht aus ihrem Zusammenhang zu reißen.

 Wuppertal

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Foto: Fries, Stefan (fri)

Gerade mit diesem Vers geschieht es aber immer wieder, vor allem bleibt der Beginn der Rede Jesu oft unbeachtet: „...ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen…bis Himmel und Erde vergehen soll nicht ein Strichlein vom Gesetz vergehen..“ Darum wird seine weitere Rede…“ihr habt gehört, dass gesagt wurde… ich aber sage euch…“ häufig falsch als Gegensatz interpretiert. Jesus steht in der Tradition des jüdischen Lernens. Das heißt, man lernt zunächst den einfachen Wortsinn eines Textes. Danach beginnt man von vorn und bohrt jedes einzelne Wort nach seinem tieferen Sinn auf. Das nennt man „drascha“. Genau das macht er hier. Er will seinen Zuhörer*innen den tieferen Sinn der Gebote erschließen. Gerade der obige Vers wurde in anderen Gelehrtenschulen seiner Zeit sehr breit diskutiert. Das war Jesus sicherlich bekannt. Man kann es im Talmud unter „B.K.83bff“ Bd 7 über lange Seiten nachlesen. Ob nun in Unkenntnis oder aus

Gedankenlosigkeit taucht dieser Vers im Rundfunk, Fernsehen oder in den Printmedien von Zeit zu Zeit in völlig falschem, sogar bösartigem Zusammenhang auf. Wir Juden zucken dann zusammen, als habe man uns geohrfeigt und fragen uns, warum dieses Missverständnis so unausrottbar ist.

 Schon der Kirchenvater Augustinus erklärte, das Talionsgesetz (darum handelt es sich hier) sei ein Gesetz der Gerechtigkeit und nicht des Hasses. Vor und nach ihm haben viele jüdische und christliche Gelehrte diese sprachlich vielleicht etwas schwierigen Stellen der mosaischen Weisungen ausführlich diskutiert und erklärt. Lassen Sie uns gemeinsam diesem Gedanken nachgehen. Dazu müssen wir etwas weiter ausholen. Wir wissen, dass die Wiege unserer Kultur lange vor Athen und Rom im Mittleren und Nahen Osten und in Ägypten stand. Die Sumerer hatten schon geordnete Stadtstrukturen und mit dem Codex Hammurabi ein auf den König ausgerichtetes Rechtswesen entwickelt. Da die Urväter der Israeliten aus dem Zweistromland stammten und diese Gesetze wahrscheinlich gekannt haben, nahm man an, dieser Codex sei auch die Vorlage für die biblischen Weisungen. Das stimmt so nicht. Zeitlich ist es einige hundert Jahre später und der gesellschaftliche Ansatz ist ein anderer. Wir haben es hier mit nomadischen, später bäuerlichen Verhältnissen zu tun. Die Erfahrung von Unterdrückung, Vertreibung, Elend und vor allem wunderbarer Bewahrung ließ die Menschen trotz mancher Querelen zusammenwachsen. Die ihnen von Mosche übermittelten Weisungen sind göttliches Recht, zur Ehre des Höchsten und zum Leben für die Menschen. Alle, Männer, Frauen und Kinder sollten sie lernen und danach handeln. Auch die Fremden, die bei ihnen lebten, unterlagen ihm. Wenn also ein Unrecht verübt wurde, war auch die Volksgemeinschaft verletzt. Eine angemessene Bestrafung diente der Beruhigung des Volkes und der Abschreckung anderer „Hitzköpfe“. Aus der Mitte des Volkes wurden Richter gewählt, die einen untadeligen Ruf haben mussten und besonders ermahnt wurden, unbestechlich zu sein und ohne Ansehen der Person zu richten.

„Auge um Auge“ lautet auf Hebräisch: Ajin tachat Ajin“ und dieses „tachat“ heißt keineswegs „um“ sondern „an Stelle von“. Wer also bei einer Rauferei dem anderen ein Auge ausgeschlagen hatte, dem wurde nicht, wie nach dem Codes Hammurabi, auch ein Auge ausgeschlagen, sondern der Verursacher musste dem Geschädigten einen angemessenen Betrag zahlen, dazu Schmerzensgeld, und er musste für die Heilungskosten aufkommen. In dem Bibelvers werden noch andere Körperteile aufgeführt, z.B. Zahn, Hand, Fuß usw. Diese stehen für die verschiedenen Berufsgruppen. Wurde einem Botengänger oder Läufer ein Fuß gebrochen oder gar abgeschlagen, hatte das für den Täter sehr viel weitreichendere Folgen. Er musste dann für die Versorgung der Familie des Geschädigten aufkommen. Ausgeschlagene Zähne behindern das Sprachvermögen oder Singen. Es war also wichtig, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wurde. Allerdings durfte dieser bei der Verhandlung nicht gedemütigt und vor allem seine Familie nicht in Haftung genommen werden, denn jeder ist für sein Handeln verantwortlich und büßt für seine und nur für seine Schuld.

Vielleicht bewirken diese kurzen Überlegungen, dass dieser oder jene vor Gebrauch dieses Verses kurz innehält und an falscher Stelle darauf verzichtet.

Als Quellen habe ich herangezogen: die Kommentare der Rabbiner Dr. Joseph Norden, bis 1935 in Elberfeld, Dr. Benno Jacob, bis 1929 in Dortmund, Dr. Joseph Herman Hertz, Oberrab. für Britannien, Samson Raphael Hirsch 1808-1888- Begründer der modernen Orthodoxie -, Jüdisches Lexikon über Jüdisches Recht in Bd IV1 u.IV 2, Babylonischer Talmud Bd. 3 + Bd 7. Für das Neue Testament: Die Elberfelder Bibel, rev. Fassung, das Calwer Bibellexikon .

Herr Rabbiner Dr. J. Norden hat 1926 eine kleine, gut lesbare Schrift „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ veröffentlicht, die man bei Wikipedia vollständig nachlesen kann.

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