Kolumne Letzte Stunden in Wuppertal

Der Lehrer und Autor zieht mit seiner Familie nach Schweden.

 Am letzten Schultag gab es Geschenke von den Schülern.

Am letzten Schultag gab es Geschenke von den Schülern.

Foto: Ulbricht/Arne Ulbricht

„Pst!“ Das kam aus meinem Klassenraum. Noch bin ich auf dem Gang, es hat vor wenigen Sekunden geklingelt. In meinem Bauch spüre ich einen Stich. Es ist meine letzte Stunde in meiner 7. Klasse, die ich seit zweieinhalb Jahren leite. Wir sind, wie es so schön heißt, durch dick und dünn gegangen. Wir haben uns gestritten und versöhnt. Wir haben endlos diskutiert. Wir sind uns manchmal auf die Nerven gegangen, viel häufiger haben wir aber zusammen gelacht. „Wenigstens ein einziges Mal möchte ich erleben, dass ihr einfach an euren Plätzen seid und aufsteht, wenn ich den Raum betrete.“ Wie oft habe ich ihnen das, halb im Spaß, halb im Ernst, gesagt, als mein Abschied immer näher rückte? Ich betrete den Raum. Meine Co-Klassenlehrerin, der ich immer blind vertraut habe und die mir zu verstehen gegeben hat, dass es umgekehrt genauso war, lächelt mich durch die Maske an. Das Gemurmel eines Schülers wird von einem kollektiven „Pst!“ erstickt. Die Klasse erhebt sich. Ich will etwas sagen. Aber ich kann nicht. Stattdessen verlasse ich sofort wieder den Raum und wische mir auf dem Gang die Tränen aus dem Gesicht.

Dann reiße ich mich zusammen. Zweiter Versuch. Klappt besser. Wir begrüßen uns, ich bekomme Geschenke, die Schüler erzählen mir, dass ich manchmal zu laut, aber niemals nachtragend gewesen sei, dass mein Pudding einfach nicht geschmeckt habe (ich hatte den Zucker vergessen), dass es lustig war, wenn ich „Klein-Arne-Geschichten“ erzählt habe, und immer wieder wird geweint. Mal weine ich, mal eine Schülerin, manchmal sogar ein Schüler. Vollkommen benommen verlasse ich am Ende den Klassenraum.  Warum bin ich dieser Bande bloß so verdammt nah? „Sie kommen halt immer zu uns mit jedem Problem“, sagt meine Co-Klassenlehrerin, die ich genauso vermissen werde wie meine 7. Klasse. Ja, das ist es. Dieser Beruf ist zutiefst menschlich, und immer dann, wenn das Menschliche verloren geht, fiel mir die Ausübung schwer. Letztendlich sitzen wir während des Unterrichts gemeinsam in einem Raum, und das ist, als säße man im selben Boot. Diese Nähe spürt man als Klassenlehrer ganz besonders.

Dann sehe ich meinen kleinen Geschichtskurs zum letzten Mal. Es gibt Kuchen, Luftballons mit schwedischen und französischen Slogans liegen auf dem Pult und Pralinen und Bier (!) werden mir überreicht. Es fühlt sich an wie eine kleine Party, so, als würden wir uns schon ewig kennen, und das ist herrlich, denn Partys darf man ja gerade nicht feiern.

Ich wollte eigentlich immer nur Schriftsteller sein. Dennoch bin ich zutiefst dankbar dafür, 18 Jahre Lehrer gewesen sein zu dürfen. Ob ich jemals wieder unterrichten werde? Ich weiß es nicht. Gerade wünsche ich es mir sehr.

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