Gedenken Erklären, ermahnen, ermuntern — die Arbeit der Erinnerer endet nie

Wuppertal · Seit 25 Jahren arbeitet die Begegnungsstätte Alte Synagoge gegen Antisemitismus.

 Antonia Dicken-Begrich (l.), Vorsitzende des Trägervereins Begegnungsstätte Alte Synagoge, begrüßte die Gäste. Ein Grußwort sprach auch Christina Rau, Witwe des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau.

Antonia Dicken-Begrich (l.), Vorsitzende des Trägervereins Begegnungsstätte Alte Synagoge, begrüßte die Gäste. Ein Grußwort sprach auch Christina Rau, Witwe des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau.

Foto: Schwartz, Anna (as)

Mit dem Wissen dessen, was in den dunkelsten Jahren deutscher Geschichte geschehen ist, entwickelt das vermeintlich Unwichtige Bedeutung. Wenn Ulrike Schrader aus dem Brief eines Langerfelder Bandwebers zitiert, der an seine Tochter in der Schweiz schreibt, wenn die Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge nach und nach mehr über diesen Mann und diesen Brief aus dem Jahre 1890 berichtet, über die insgesamt zwölf Kinder des Alten, über dessen Erkenntnis, dass Bildung alles ist und darüber, dass dieser vermutlich bescheiden gelebt habende Bandweber ein Jude gewesen ist, dann wirkt die Normalität. Dann beginnt jene Frage das Hirn des Zuhörers zu zermartern, die sechs Millionen getötete, bestialisch ermordete Juden immer noch und immer wieder stellen. Warum? Warum eigentlich wurden und werden Menschen dieses Glaubens seit mehr als anderthalb Jahrtausenden mehr oder weniger brutal verfolgt? Warum führen sie in Gesellschaften ein Randdasein? Warum müssen sie mancherorts schon wieder verbergen, dass sie Juden sind?

Der Auftrag ist nach 25 Jahren
so aktuell wie eh und je

In der Begegnungsstätte Alte Synagoge an der Genügsamkeitstraße in Elberfeld wird diese Frage nicht gestellt und in gewisser Weise doch beantwortet. Seit 25 Jahren, seit die Stätte eröffnet worden ist, beschäftigt sich die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Schrader mit jüdischem Leben im Bergischen Land. Unterstützt von ihrem Ehemann, dem Literatur- und Sozialwissenschaftler Michael Okroy, hat sie in Briefen zahlreiche Biografien zutage gefördert, die vieles, die eigentlich alles erklären. Die des Bandwebers beispielsweise und Lebensläufe anderer Juden, Handwerker, Kaufleute, Mittelstand zumeist, Reiche sind wie bei Christen und Moslems die Ausnahme.

Einander kennenlernen heißt, einander verstehen lernen, zitierte Christina Rau am Sonntag beim Festakt zum 25-jährigen Bestehen der Begegnungsstätte ihren 2006 gestorbenen Mann, den Alt-Bundespräsidenten Johannes Rau. Er hatte die Begegnungsstätte mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Ignaz Bubis, eröffnet. Die Stätte sei ein Zeichen der Hoffnung in einer Zeit, in der es um Zivilcourage gehe. Und Bubis mahnte, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und gegen Intoleranz sowie Fremdenhass zu arbeiten.

Der Auftrag ist unverändert und auch 25 Jahre nach den Worten von Johannes Rau und Ignaz Bubis aktuell. Oberbürgermeister Andreas Mucke bezeichnete die Begegnungstätte denn auch als „Lernort im wahrsten Sinne des Wortes“. Die zunehmende Verrohung der Sprache sei eines von vielen Anzeichen, dass solche Stätten notwendig seien.

Dabei hat Wuppertal sich nicht leicht getan mit der Erinnerungskultur auf dem Gelände der 1938 niedergebrannten Elberfelder Synagoge. Von der Idee bis zur Eröffnung vergingen 13 Jahre. Und es brauchte die Hartnäckigkeit der damaligen Oberbürgermeisterin Ursula Kraus, die Fraktionen im Stadtrat von dem Plan zu überzeugen. 1986 war es soweit, acht Jahre später wurde die Begegnungsstätte eröffnet.

Es ist vielleicht eine Wuppertaler Besonderheit, dass diese Bildungseinrichtung nicht von Personen, sondern von Institutionen getragen wird. Die Stadt Wuppertal, die Kirchen, Vereine und Stiftungen sorgen dafür, dass Schrader, Okroy und deren überschaubare Zahl von Mitarbeitern die Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit leisten können. Sie tun das sachlich, wissenschaftlich auf höchsten Niveau und ohne erhobenen Zeigefinger. Gerade in Zeiten, in denen 140- bis 280-Zeichen-Erkenntnisse Konjunktur haben, in denen die Grenze zwischen Nachricht und Information zunehmend zu verschwimmen scheint, sind Fakten bedeutend. Das gilt auch dann, wenn sie noch so banal zu sein scheinen, so vermeintlich banal, wie der Inhalt des Briefes eines Bandwebers aus Langerfeld an seine Tochter in der Schweiz. Ein ganz normaler Brief über ein ganz normales Leben einer einer ganz normalen Familie - deren Mitglieder nur ein paar Jahre später zu den Opfern des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte gehören sollten. Warum? Auf diese Frage gibt auch die Begegnungsstätte keine Antwort. Auf diese Frage kann es keine akzeptable Antwort geben.

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