Gastbeitrag 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen – und nun?

Wuppertal · Ein Gastbeitrag von Suzan Öcal, Bildungsreferentin im Ressort Zuwanderung der Stadt Wuppertal.

 Suzan Öcal

Suzan Öcal

Foto: Suzan Ocal

Ich habe erwartet, dass etwas passiert am 30. Oktober: Festakte, Anerkennung der Lebensleistungen, die feierliche Bekanntmachung: Die Migrationsgeschichte seit den 50er Jahren ist nun fester Bestandteil des deutschen Geschichtsunterrichts. Junge Menschen lernen neben der alten, mittelalten und neuen Geschichte auch etwas über die Vergangenheit, die noch nicht so weit zurückliegt. Über die Leistung all derer, die hierhergekommen sind, um zu arbeiten, zum Aufbau des Landes genauso beizutragen, wie sich selbst einen bescheidenen Wohlstand aufzubauen.

Nun würde doch gesamtgesellschaftlich verdeutlicht werden, was diese Menschen erlebt haben seit ihrem Ankommen in Deutschland. Wie war das mit den „Gastarbeitern“, die nur für einen kurzen Zeitraum geholt wurden, dann oft geblieben sind, weil die Wirtschaft auf ihre Arbeitskraft angewiesen war; weil sie noch nicht genug Geld hatten, um zurückzukehren – man wurde halt nicht reich; weil die Kinder in die Schule gingen – sie sollten doch zumindest einen Abschluss haben; weil warum auch immer?

Ich hatte gedacht, nun würde ganz selbstverständlich sichtbar wie schwer es diese Menschen hatten: Keine Sprachkurse, keine Willkommenskultur oder Orientierungsangebote, kaum gesellschaftliche Zugänge. Stattdessen harte, zum Teil gefährliche Arbeit in Fabriken, schlecht bezahlt, überteuerter Wohnraum, Familienmitglieder, die zurückgelassen wurden und immer wieder das Damoklesschwert des befristeten Aufenthalts – Ölkrise, Wirtschaftskrise, Rückkehrprämie, „Das Boot ist voll“. 2021 wissen nun ALLE um diesen Teil der deutschen Vergangenheit, um die persönlichen Schicksale, Tragödien, Glücksmomente und Erfolgsgeschichten?

Immer noch weiß man viel zu wenig und das vor dem Hintergrund, dass die sogenannte erste Generation schon sehr alt oder bereits verstorben ist. Auch wenn wir uns nun etwas bewegen: Anerkennungskultur, Diversitätsdebatte, das Ringen um die Wahrnehmung der Unterschiedlichkeit auf einer gemeinsamen Grundlage.

Der Beitrag der Großeltern, Mütter und Väter von Giovanni, Canan, Samir, Dimitrios und Blazenka zur Entwicklung unseres Landes muss wahrgenommen und anerkannt werden. – Ähnliche Abkommen gab es auch mit Italien, Griechenland, Marokko, Spanien und dem damaligen Jugoslawien.

Das ist beutend für die Entwicklung eines gemeinsamen Selbstverständnisses aller Menschen und der nachfolgenden Generationen in Deutschland. Das können wir doch besser und schneller – nach über 60 Jahren.

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