Gastbeitrag Ein Appell gegen leere Worte und die Routine des Erinnerns

Wuppertal · Warum das Denkmal im Deweerth’schen Garten zu einen richtigen „Denk-mal-nach-Denkmal werden könnte.

 Die Aufnahme zeigt John R. Wahl mit seiner späteren Ehefrau Gitta in Deutschland (vermutlich 1945/46).

Die Aufnahme zeigt John R. Wahl mit seiner späteren Ehefrau Gitta in Deutschland (vermutlich 1945/46).

Foto: Kerstin C. Rounds

Seit vielen Jahren findet sich am 20. Juli eine treue Schar an dem großen Mahnmal im Deweerth’schen Garten ein, um an das Attentat auf Adolf Hitler im Jahr 1944 zu erinnern. Der wuchtige Steinblock dient seit 1958 als mächtige Steinkulisse für eine stilisierte menschliche Skulptur. Eingraviert sind die Worte „Der Mensch sei Mensch“. 1973 kam noch der Hinweis auf das Konzentrationslager Kemna dazu, und seit 2011 sind auf dem Stein die Namen der Wuppertaler Opfer des Nationalsozialismus zu lesen.

Aber was bedeutet der Appell „Der Mensch sei Mensch“? Der Satz scheint merkwürdig allgemein und pathetisch. Er geht davon aus, dass das Menschsein allein schon etwas Gutes sei. Aber wissen wir es nicht besser?

Der Krieg war gerade erst ein Vierteljahr vorbei. Die Amerikaner hatten die Stadt Wuppertal an die Engländer übergeben, da klopfte es an der Tür zum Büro von Oberbürgermeister Eugen Thomas. Herein kam ein Soldat in amerikanischer Uniform und begann ein Gespräch, das der Oberbürgermeister, später am Tage, für seine Verwaltung schriftlich zusammenfasste. Da heißt es: „Ich hatte heute Morgen den Besuch des Herrn WAHL, der als Sergeant (?) seit fünf Jahren in einer amerikanischen Armee dient. […] Er führte aus, dass es eine Schande für die Stadt Wuppertal sei, dass der jüdische Friedhof in Barmen, Westkotterstraße, sich in einem so beklagenswerten Zustand befände und wünschte, dass städtischerseits alles unternommen werden möge, um den Friedhof in einen würdigen Zustand zu bringen.

Ich habe Herrn Wahl selbstverständlich zum Ausdruck gebracht, dass wir zur Zeit städtischerseits andere Aufgaben für dringlicher halten.

Mit Rücksicht auf die psychologische Seite bin ich indessen der Meinung, dass man alles tun muss, um die zweifellos bestehende Animosität der betroffenen Kreise zu beseitigen. Der Sergeant Wahl hat ferner angeregt, er habe die Absicht, für seine ermordeten Eltern innerhalb der Barmer Anlagen irgendeine Gedächtnistafel anbringen zu lassen.“

Für Oberbürgermeister Thomas war die Begegnung mit John Wahl aus mehreren Gründen eine Herausforderung: Wahl war Amerikaner und damit Angehöriger einer der Siegernationen, er war Soldat. Als früherer Wuppertaler war seine Muttersprache deutsch. Missverständnisse waren ausgeschlossen. Und: Er war Jude. Oberbürgermeister Eugen Thomas hatte nicht im Ansatz eine Vorstellung davon, woraus sich diese angebliche „Animosität“ speiste:

John Wahl war nach über zwölf Jahren im Ausland als US-Soldat nach Europa zurückgekehrt, um mit den Alliierten gegen Nazi-Deutschland den Krieg zu beenden. Zunächst war er als Dolmetscher im befreiten Paris und dann in Luxemburg eingesetzt. Er erlebte die Niederlage der Deutschen bei der Ardennenoffensive und überquerte den Rhein bei St. Goarshauen. Auf der Suche nach seinen Eltern reiste er Mitte Mai 1945 in das von der Roten Armee befreite Ghetto Theresienstadt. Nur ein weiterer Sergeant, der dort auch nach seinen Eltern suchte, begleitete ihn. Womöglich waren sie die ersten US-Soldaten, die das Ghetto betreten haben.

Warum das NS-System funktionieren konnte und dann auch noch zwölf Jahre lang, ist schon länger kein Geheimnis mehr. Einer der Gründe war die Bildung einer so genannten Volksgemeinschaft, in der festgelegt war, wer dazu gehörte und wer nicht. Auch Oberbürgermeister Eugen Thomas hatte gelernt und verinnerlicht, dass Juden ganz gewiss nicht dazu gehören, und nun stand einer leibhaftig vor ihm, dazu noch in einer amerikanischen Uniform, und stellte Forderungen. Ein Mitglied der „betroffenen Kreise“, einer, der „Animositäten“ hat.

Thomas, der treu mitgelaufen war im NS-System, sollte plötzlich lernen, dass alle Menschen Menschen sind. Aber der amerikanische Sergeant forderte ein Denkmal für seine Eltern, weil diese als Juden ermordet worden waren, nicht als Menschen.

Auf den Tag genau zwei Jahre vor dem Attentat auf Adolf Hitler, am 20. Juli 1942, vor nun 78 Jahren, hatten sich Ernst und Berta Wahl am Bahnhof Steinbeck einzufinden – zusammen mit 245 weiteren jüdischen Wuppertalerinnen und Wuppertalern, noch weiteren aus den Nachbarstädten. Sie wurden zum Bahnhof Düsseldorf Derendorf gefahren. Auch ihre Freunde, wie zum Beispiel der Rechtsanwalt Kurt Orgler und seine Frau Adele waren dabei, der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. Eugen Rappoport und seine Frau, die Opernsängerin Elsa. Die meisten wussten, was diese Reise bedeutete – wir kennen viele Abschiedsbriefe und können uns vorstellen, was die Leute dachten.

Der Gedenktag kann zu einem „Denk mal nach“-Tag werden

In Düsseldorf mussten sie eine Nacht auf dem Schlachthofgelände verbringen, wo schon Hunderte von Essenern, Mühlheimern, Krefeldern und anderen rheinischen Juden warteten. Es war eng, Betten gab es keine. Tagsüber waren hier Rinder geschlachtet worden, überall stand noch das Wasser, es wird gestunken haben, es war schmutzig und eklig. Vielleicht war es heiß, wie so oft am 20. Juli? Zu diesem Zeitpunkt standen die „Männer des 20. Juli“ ihrem Führer treu ergeben an der Front und waren, wie die meisten Deutschen, überzeugt davon, dass Deutschland den Krieg gewinnen würde.

Von Düsseldorf wurden die ungefähr 1000 „Menschen“ in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Ernst Wahl kam dort am 12. März 1944 um. Seine Frau wurde ein halbes Jahr später nach Auschwitz deportiert und sofort ermordet – auch von „Menschen“! Menschsein allein genügt nicht, wie diese Geschichte lehrt. Der Gedenktag am 20. Juli kann das Denkmal in Wuppertal zu einem wirklich „Denk mal nach!“ machen, wenn wir wollen.

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