Trend bei Abiturienten Lieber studieren und abbrechen als Lehre

Düsseldorf. · Abiturienten wollen nicht ins Handwerk, sondern an die Uni – selbst wenn sie dort scheitern. Gegen den Trend kämpfen Kammern, Kommunen und Politik.

 ARCHIV - 10.04.2014, Rheinland-Pfalz, Koblenz: Studenten sitzen bei der Erstsemesterbegrüßung am Campus Koblenz der Universität Koblenz-Landau im großen Hörsaal. Der Landtag befasst sich mit Plänen des rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministeriums, nach denen die Universität Koblenz-Landau bis 2022 auseinandergehen soll. Foto: Thomas Frey/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

ARCHIV - 10.04.2014, Rheinland-Pfalz, Koblenz: Studenten sitzen bei der Erstsemesterbegrüßung am Campus Koblenz der Universität Koblenz-Landau im großen Hörsaal. Der Landtag befasst sich mit Plänen des rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministeriums, nach denen die Universität Koblenz-Landau bis 2022 auseinandergehen soll. Foto: Thomas Frey/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa/Thomas Frey

  Zum ersten Mal findet die Berufswahlmesse „Lust auf Handwerk“ am kommenden Freitag, 5. April, in Düsseldorf statt. Eine große Orientierungsmesse war zuvor weggebrochen, man wähnte den Bedarf enorm. „Wir haben alle weiterführenden Schulen in Düsseldorf angeschrieben“, sagt Gregor Nachtwey von der Kommunalen Koordinierung beim Schulverwaltungsamt. Doch die Lust auf Handwerk fehlt offensichtlich vielen Abiturienten in der Landeshauptstadt: Während etwa alle Hauptschulen zusagten, sind unter 30 teilnehmenden Schulen nur vier Gymnasien und zwei Gesamtschulen. Von mehr als 1200 angemeldeten Schülern sind 74 Gymnasiasten. „Das ist nicht mal annähernd ein Zehntel“, so Nachtwey. Es ist eine Erfahrung, die er immer wieder macht: Wer das Abi anstrebt, will auch studieren – obwohl Talente und Chancen vielfach anderswo liegen.

Wladimir Fast bricht vier Studiengänge ab, ist jetzt Tischler

Laut Schulstatistik haben beispielsweise im Jahr 2017 gut 76 000 Schüler in NRW mit allgemeiner Hochschulreife abgeschlossen, teilt das Arbeitsministerium auf Anfrage mit. Im selben Jahr starteten nach Zahlen der Arbeitsagentur rund 23 000 junge Menschen mit allgemeiner Hochschulreife eine betriebliche Berufsausbildung. Eigentlich kein schlechter Anteil. Aber: Unklar ist, wie viele junge Menschen sich direkt von der Schulbank in eine Ausbildung bewarben. Denn bei der Handwerkskammer Düsseldorf beobachtet man zunehmend geradezu „tragische Karrieren“, so Geschäftsführer Christian Henke: „Wir haben eine steigende Zahl von Studienabbrechern, die in höherem Alter noch eine Ausbildung machen wollen. Auch solche, die zwei bis drei Studiengänge angefangen und keinen zu Ende gebracht haben.“

Inzwischen gebe es mit mehreren Hochschulen in NRW Kooperationen, weil auch diese erkannt hätten, dass sie für Studienzweifler Alternativangebote machen müssen. Die Handwerkskammer hat dazu eine Infoseite im Internet aufgebaut (hwk-duesseldorf.de/studienzweifler). Dort ist in einem Video etwa Wladimir Fast zu sehen, für den nach dem Abi klar war, er würde studieren – auch weil seine zwei älteren Brüder studiert hatten. Vier Studiengänge hat er ausprobiert. Und abgebrochen. Heute arbeitet er mit abgeschlossener Lehre in einer Tischlerei in Kaarst und sagt, er habe jeden Morgen Lust, zur Arbeit zu gehen.

Ein Einzelfall wird der junge Nordrhein-Westfale nicht sein. Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zur „Attraktivität der beruflichen Bildung bei Studienabbrecherinnen und Studienabbrechern“, die das Bundesbildungsministerium 2018 veröffentlichte, nahmen 43 Prozent der befragten Exmatrikulierten ein halbes Jahr nach dem Studienabbruch eine Berufsausbildung auf. Zweieinhalb Jahre nach der Exmatrikulation hatten sogar schon 23 Prozent der Ex-Studenten einen Berufsabschluss, 32 Prozent befanden sich noch in der Ausbildung.

Und laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln nehmen diese Umsteiger nicht einmal notwendigerweise Einbußen bei beruflicher Stellung und Verdienst in Kauf. Die Forscher haben Arbeitsmarktperspektiven von Fachkräften mit Fortbildungsabschluss mit denen von Akademikern verglichen und herausgefunden: Die erste Gruppe ist öfter weisungsbefugt oder sogar Vorgesetzter als die zweite; in einem von fünf Unternehmen verdienen die Fortbildungsabsolventen besser, in mehr als der Hälfte der Firmen mindestens genau so viel wie Akademiker.

Und hierbei werden schließlich nur die Akademiker gezählt, die auch einen Job haben. Dass aber, sagt Christian Henke von der Handwerkskammer sei ja längst nicht mehr sicher, nachdem nicht wie in den 80ern 20 Prozent der jungen Menschen studieren, sondern um die 50 Prozent. Das Studium sei „kein Garant für Wohlstand“ mehr. Das sehe bei vielen Handwerksmeistern mit eigener Firma bei derzeit chronisch überfüllten Auftragsbüchern anders aus: „Wer als Unternehmer einen guten Job macht, gehört nicht zu den Geringverdienern.“

Ein Problem, da sind Gregor Nachtwey und Henke einig, sind die Erwartungen der Eltern als wichtigste Bildungsberater. Aber auch die Haltung von Schulen: „Wir haben einen sehr schwierigen Zugang zu Gesamtschulen und Gymnasien“, beobachtet Henke. Dabei machten ja nicht einmal alle Gesamtschüler überhaupt das Abitur. Dennoch: „Die Gymnasiasten und zunehmend auch die Gesamtschüler sind auf einer ganz eingefahrenen Bahn“, glaubt Henke. Sie wollten unbedingt an die Hochschule. Nachtwey berichtet von einem Extrembeispiel, wo sich ein Dachdecker Hilfe suchend an ihn wandte, weil er seinen Betrieb an einen jungen Meister weitergeben wollte. „Das war ein Ausbildungsplatzangebot mit echter Karrierechance und der Aussicht, in kürzester Zeit einen eigenen Betrieb zu führen“, schildert der Schulexperte. „Damit bin ich die die Schulen rein – und habe niemanden gefunden.“

Arbeitsminister Laumann: „Studium und sonst nix“

Auch NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat das Problem auf dem Schirm: „Wir schätzen häufig zu gering, welche Fertigkeiten und Fähigkeiten im Rahmen einer dualen Ausbildung vermittelt werden – und wie modern, vielfältig und zukunftsfähig diese sind“, sagt er gegenüber dieser Zeitung. „Fakt ist aber auch: Jugendliche können nach Abschluss ihrer Schule inzwischen wählen, ob sie eine Ausbildung machen, ein Studium aufnehmen oder einen höheren Schulabschluss erwerben wollen. Und das gesellschaftliche Bildungsideal heißt in vielen Familien allzu oft: Studium und sonst nix.“ Es sei Aufgabe der Politik, aber auch von Unternehmen, Kammern und Sozialpartnern, die Attraktivität der Ausbildung im „Wettbewerb mit anderen beruflichen Lebensentwürfen“ stärker herauszustellen. Und insbesondere noch besser zu werden wenn es darum gehe, unzufriedene Studenten beim Wechsel in die Ausbildung zu unterstützen. Laumann: „Das gilt besonders hinsichtlich der gesellschaftlichen Wertschätzung für diese Entscheidung.“

Gregor Nachtwey wird einstweilen versuchen, zumindest den wenigen zukünftigen Abiturienten, die am Freitag kommen wollen, im Zentrum für Berufsorientierung und Übergänge (ZBÜ, Vennhauser Allee 167, 9 bis 17 Uhr) doch noch etwas „Lust auf Handwerk“ zu machen.

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