Interview Thomas Kutschaty: „Ich will in NRW kein Detroit“

Düsseldorf · Der SPD-Landesfraktionschef im Gespräch mit unserer Zeitung über den Fall Bayer in Wuppertal, staatlichen Wohnungsbau und den Linksrutsch der Sozialdemokraten.

 Der Fraktionsvorsitzende der SPD im NRW-Landtag, Thomas Kutschaty (Mitte), im Gespräch mit Olaf Kupfer, Juliane Kinast und Annette Ludwig (v.l.).

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im NRW-Landtag, Thomas Kutschaty (Mitte), im Gespräch mit Olaf Kupfer, Juliane Kinast und Annette Ludwig (v.l.).

Foto: Michaelis, Judith (JM)

Herr Kutschaty, zuletzt waren Sie als Justizminister bei uns, jetzt kommen Sie als Oppositionsführer. In welcher Rolle fühlen Sie sich wohler?

Kutschaty: Beides sind wichtige Rollen in der Demokratie. Ich wäre gerne Minister geblieben, finde die neue Themenpalette aber sehr bereichernd. Man sieht viele Baustellen.

Zum Beispiel?

Kutschaty: Schulpolitik, Inklusion, soziale Ungleichheit und so viel mehr. Von der Landesregierung aufgerissen oder liegen gelassen. Wir steuern daraufhin, dass bestimmte Regionen in NRW abgehängt werden. Das sieht man doch auch in Ihrer Region in Wuppertal im Fall von Bayer. Was da an Forschung und Technologie und 750 Arbeitsplätzen wegbricht - da sieht die Landesregierung einfach tatenlos zu.

Was hätten Sie bei Bayer anders gemacht?

Kutschaty: Ich habe den Betriebsrat in die Fraktion eingeladen, wir sprechen: Wie kann ich versuchen, ein Unternehmen oder mindestens industrielle Fertigung, Forschung und Entwicklung halten? Warum bringe ich das nicht mit der Forschung der Wuppertaler Universität zusammen und komme zu Kooperationen? Der liberale Wirtschaftsminister Pinkwart sagt: dann ist das eben so. Ich sage: Warum geht da die Hochschule nicht rein? Wenn wir uns die Länder anschauen, die ausschließlich auf Dienstleistungen setzen und Technologie und Produktion aufgeben, dann sind dort die europäischen Wirtschaftskrisen zu Hause. Die Landesregierung kämpft zu wenig. Thyssenkrupp, Karstadt und Kaufhof sind weitere Beispiele. Ich will in Nordrhein-Westfalen kein Detroit.

Ist das der alte Unterschied zwischen freiem und gelenktem Markt?

Kutschaty: Der freie Markt regelt es eben nicht allein. Es kommt zu Verwerfungen und Strukturbrüchen. Öde Landschaften dürfen hier nicht entstehen.

Reicht Ihnen in diesem Zusammenhang das Ergebnis aus der Kohle-Kommission?

Kutschaty: Wir müssen auch dort industrielle Arbeitsplätze erhalten. Bislang ist vorgesehen, die Fläche weitgehend zu renaturieren. Ich würde gerne einen Teil der jetzt verwüsteten Landschaft als Gewerbestandorte erhalten. Das gilt auch für die Kraftwerkstandorte im Ruhrgebiet, da geht es um 600 Hektar Flächen. Ich möchte nicht, dass die Konzerne den Kommunen die Ruine hinterlassen und ein Bauzaun drumherum gezogen wird.

Fanden Sie Ihre Kritik passend, als sie nach dem Kohlekompromiss für das Rheinische Revier sofort auf das Ruhrgebiet abgehoben haben?

Kutschaty: Diese Kommission hat sogar einen konkreten Vorschlag für das Saarland unterbreitet, und die haben gar keine Braun- sondern nur alte Steinkohlekraftwerke. Die haben im Saarland mitgedacht. Armin Laschet sagt über das Ruhrgebiet: Wir haben ja die Ruhrkonferenz. Da geht es um Ideen, an denen es nie mangelte, aber Geld soll nicht fließen. Die Wahrheit ist: Bei der Ruhrkonferenz bekämpfen gerade zwölf Minister Kleinkriminalität. Das hat die Landesregierung total verschlafen. Von den 15 Milliarden soll ja so gut wie gar nichts im Ruhrgebiet landen.

Verschlafen worden ist seit Jahren das Thema Wohnen in NRW. Der Bedarf ist gewaltig. Was sind Ihre Vorschläge?

Kutschaty: Wir müssen sozialen Wohnungsbau attraktiv machen und Flächen zur Verfügung haben. Jeder zweite Haushalt in Städten wie Köln und Düsseldorf kann einen Wohnberechtigungsschein bekommen, das zeigt den Bedarf. Also brauchen wir mehr öffentlich geförderten Wohnraum. Bauministerin Scharrenbach hat die Eigenheimförderung ausgebaut. Das kann man machen, hilft der alleinerziehenden Köchin in Düsseldorf aber gar nichts. Und wir müssen schauen, in welchen Preisbereichen man Miete nehmen darf. In manchen ländlichen Bereichen sind die Mietsätze so niedrig gesetzt, dass da niemand baut. Und es war ein Fehler von Ex-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, die Landeswohnungsbaugesellschaft zu verkaufen. Wir brauchen eine neue.

Wie soll das finanziert werden?

Kutschaty: Ich kann Mietwohnungsbau als Staat rentabel betreiben. Statt zehn Prozent Rendite habe ich dann eben nur vier. Wohnen ist auch Grundrecht. Sogar in Bayern hat Herr Söder jetzt die „Bayern Heim AG“ gegründet. Und wir sind auch in NRW nicht allein, es gibt das Bündnis „Wir wollen wohnen“. Nicht das einzige Bündnis gegen die Landesregierung übrigens. So viele Bürgerinitiativen nach so kurzer Regierungszeit habe ich noch nie erlebt.

Was müsste eine neue LEG denn anders machen als die alte gescheiterte?

Kutschaty: Das ist ja kein Zauber. Es gibt große institutionelle Anleger, die in Immobilien investieren: Versorgungswerke, Renten- und Pensionskassen. Die können das doch auch. Eine Landesgesellschaft, die unter gesellschaftsrechtlichen Aspekten und eben nicht als Unterabteilung des Bauministeriums mit aussortierten Politikern geführt wird, schafft das.

Für Ihre Vorschläge braucht es Geld: Beitragsfreie Kitas, sofort gleiche Lehrerbesoldung von Grundschullehrern. Wo soll das alles herkommen?

Kutschaty: Wir haben hohe Steuereinnahmen. Und die sollen hoch bleiben. In Zeiten, in denen es an Kitaplätzen fehlt und mittlere bis geringe Einkommen den Kitaplatz bezahlen müssen, darüber nachzudenken, den Solidaritätszuschlag auch für die zehn Prozent am oberen Rand abzuschaffen, halte ich für völlig falsch. Unsere Anträge für Kitagebührenfreiheit sind alle gedeckt. Familienminister Stamp nimmt dafür jetzt fremdes Geld, und das ist dreist: In den 1,3 Milliarden aus seinem Kita-Paket sind 395 Millionen von den Kommunen, 430 Millionen vom Bund und nur 500 Millionen Landesmittel, die auch schon im letzten Haushalt standen. Die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen hat er jetzt gegen sich, das sind eben Projekte zu finanziellen Lasten anderer. Die freien Träger sind auf dem Baum und überlegen, Einrichtungen zu schließen.

Dann scheint ja ein breites Bündnis für die Abwahl bei der nächsten Landtagswahl geschaffen. Also alles in Ordnung für die SPD?

Kutschaty: Natürlich lief nicht alles gut für die SPD, das muss ich Ihnen nicht erzählen. Aber die Schritte, die jetzt in den letzten Wochen gemacht worden sind, gehen genau in die richtige Richtung.

Sie meinen im Bund.

Kutschaty: Ja, aber die Ideen kommen ja nicht allein aus dem Bund. Was jetzt als Sozialstaatsreform gekommen ist, habe ich vor einem Dreivierteljahr gefordert.

Verstehen Sie die SPD aus NRW als Initiator für die derzeit mutigere SPD im Bund, die offenbar weiter nach links rückt?

Kutschaty: Ja, auf jeden Fall. Wobei ich Links und Rechts anders definiere. Der moderne Teil findet soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz wichtig, und es gibt einen konservativen Teil, der andere Prioritäten setzt und sich dem Gemeinwohl nicht so verpflichtet fühlt. Ich kann damit leben, wenn Sie sagen, die SPD rutsche nach links.

Glauben Sie, Parteichefin Andrea Nahles sieht das auch so? Es gab bittere Klage über die SPD aus NRW, als Sie. Herr Kutschaty, die Groko torpediert haben.

Kutschaty: Ich kämpfe einfach für NRW. Natürlich bin ich angefeindet worden, weil die Groko angesagt war. Ich sage jetzt: Es ist gut, dass sich die Partei jetzt entwickelt. Wir arbeiten wieder an einer Vision. Wir waren nach vier Bundestagswahlen dreimal in der Groko als kleinerer Partner und kaum mehr unterscheidbar. Viele Entscheidungen waren für mich angstgesteuert vor Neuwahlen. Jetzt schaffen wir uns Raum und riskieren wieder etwas.

Wollen Sie die Groko noch?

Kutschaty: Das entscheidet sich in den kommenden Monaten. Und wir werden das überprüfen am Ende des Jahres auf einem Parteitag. Wie reagiert die Union auf unsere Vorschläge zur Rente und zur Sozialstaatsreform?

Bei der Rente von Arbeitsminister Heil soll es keine Bedürftigkeitsprüfung geben. Ist das kompromisslos?

Kutschaty: Ein fauler Kompromiss wäre jetzt Murks. Frau Merkel ist schlau, sie räumt Themen, die ihr gefährlich werden können, schnell ab. Und die Zustimmung ist gerade groß, 61 Prozent befürworten diese Grundrente. Das kann schnell gehen.

Und es wird sagenhaft teuer.

Kutschaty: Naja. Wir sprechen über fünf Milliarden Euro bei Steuermehreinnahmen von 30 Milliarden. Die Rentenkassen sind gut bestückt. Schon heute sind die staatlichen Renten zu einem großen Teil bezuschusst. Wir geben ja nicht jedem an der Ecke Rente. Man muss ja erstmal 35 Jahre gearbeitet haben. Und wir sprechen nicht über exorbitante Renten.

Die Forderungen kommen am Ende einer Aufschwungphase. Sie wollen eine junge Generation begeistern, bürden ihr aber immer mehr auf.

Kutschaty: Die Forderungen sindt volkswirtschaftlich sinnvoll. Ich habe einen Klempner, der sagt mir, das unsere Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro gut ist. So sei er vor dem Lohndumping der anderen geschützt. Den Leuten, denen ich jetzt mehr Mindestlohn gebe, die investieren das doch wieder, die bringen ihr Geld doch nicht nach Panama. Und: 50 Jahre Hartz IV ist teurer als jetzt mal vernünftig in Lehrer zu investieren, damit Leute zu vernünftigen Qualifikationen kommen. Wenn ich Kindern Chancen zur bestmöglichen Entwicklung gebe, wird in 15 Jahren ein guter Steuerzahler aus ihnen.

Wie sehen die Machtoptionen der SPD künftig aus?

Kutschaty: Regierungsbildungen werden schwieriger, wir haben sechs Parteien mit einem Spektrum von jeweils 10 bis 30 Prozent. Wir müssen mutiger werden für Dreierbündnisse. Ich würde mit allen Parteien außer der AfD sprechen.

Also Rot-Rot-Grün?

Kutschaty: Ja, warum soll ich es denn heute ausschließen? Ich schließe auch die FDP nicht aus.

Hat die SPD verschlafen, gegen das massive Problem der Clans vorzugehen?

Kutschaty: Nein, überhaupt nicht. Herr Reul bestätigt ja selbst, dass die rückgängigen Kriminalitätszahlen aus Maßnahmen unserer letzten Jahre resultieren.

Bei der Bekämpfung von Clankriminalität sieht er das sicher nicht so.

Kutschaty: Welche Erfolge hat er denn? Da werden ja Drehbücher geschrieben, die Kameras stehen eine halbe Stunde vor der Polizei an der Shisha-Bar. Man hat den Eindruck, Herr Reul macht jedes Wochenende, an dem er kein Kegeln hat, jetzt eine öffentlich wirksame Razzia. Das ist bislang Bekämpfung von Klein- statt Clankriminalität. Hauptbekämpfung geht anders: Sie nehmen den Bossen das Geld weg, die Immobilien, den Maserati. Das ist in NRW aber dramatisch eingebrochen. 2017: 192 Millionen, 2018 gerade noch 77 Millionen. Stattdessen rennt Herr Reul einem Kilo unversteuertem Tabak hinterher. Mit 1300 Polizeibeamten.

Die SPD wurde wegen des Themas innere Sicherheit nicht mehr gewählt.

Kutschaty: Stimmt. Aber die SPD hat die Polizeistellen ständig aufgerüstet, die die CDU abgebaut hat unter Rüttgers. Seine Devise damals: Privat vor Staat.

Die SPD schießt sich gerade auf NRW-Justizminister Biesenbach ein. Warum?

Kutschaty: Herr Kollege Biesenbach sollte jetzt in seinen wohlverdienten Ruhestand gehen. Er hat sich vorgestellt, dass das alles nur schön ist in diesem Justizressort. Und ich glaube, er ist jetzt überfordert. Das Vertrauen in die Justiz hat doch sehr gelitten. Diese Landesregierung hat ohnehin ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat. Wenn Herr Reul sagt, die Richter sollten mal im Streifenwagen mitfahren, um das wahre Leben kennenzulernen – das trägt nicht dazu bei, den Respekt vor der Justiz zu festigen. Und auch 30 Jahre Stau vorherzusagen, nachdem der doch eigentlich gelöst werden sollte, dafür musste Herr Wüst kein Verkehrsminister werden.

Die Frage beim Thema Verkehr ist doch: Warum muss jetzt alles auf einmal investiert werden und ist vorher nichts gemacht worden?

Kutschaty: Der Einwand ist völlig berechtigt, unsere Infrastruktur ist die letzten 50 Jahre nicht erneuert worden. Man hat lieber die neue Umgehungsstraße eingeweiht als die alten Straßen renoviert. Aber: Der SPD-Verkehrsminister Mike Groschek hat doch die Mittel nach NRW geholt, die jetzt verbaut werden.

Wie beurteilen Sie, dass die EU den Druck aus der Fahrverbotsdiskussion genommen hat?

Kutschaty: Ich kann die Erleichterung der Kommunen nachvollziehen, ich wohne in so einer Kommune. Die A40 geht durch meine Stadt, 18 von 50 Stadtteilen wären gesperrt. Es ist eine Atempause. Aber die Grenzwertverschiebung ist ja nicht die Lösung. Wir müssen alle umdenken, zum Beispiel die Taktung des öffentlichen Verkehrs erhöhen und Angebote schaffen, zum Beispiel: 1 Euro pro Tag für die Bahn. Und die Autokonzerne, die uns das eingebrockt haben, müssen für ihre Fehler aufkommen. Sie können das ja auch. Selbst wenn sie exorbitante Strafzahlungen in den USA leisten müssen, sind ihre Gewinne auf Rekordniveau.

Welchen Job hätten Sie gerne als nächstes?

Ich möchte weiter Politik in Düsseldorf machen. Landtag ist nicht zweite Bundesliga. Ich mache das gern.

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