Pogromnacht So hat ein Rabbiner die Pogromnacht in Düsseldorf erlebt

Düsseldorf · Der Düsseldorfer Rabbiner Max Eschelbacher überlebte die Pogromnacht, mit der die Ermordung der Juden Europas begann. Auszüge seines Berichts.

Die Düsseldorfer Synagoge an der Kasernenstraße (hier in den 30er Jahren) wurde in der Nacht vom 9. November 1938 niedergebrannt. Die Feuerwehr ließ sie brennen und schützte nur die Nachbargebäude.

Die Düsseldorfer Synagoge an der Kasernenstraße (hier in den 30er Jahren) wurde in der Nacht vom 9. November 1938 niedergebrannt. Die Feuerwehr ließ sie brennen und schützte nur die Nachbargebäude.

Foto: Stadtarchiv

Spätestens seit dem aktuellen Historiker-Bericht zu den wirklichen Opferzahlen, den ein Historikerteam um den Leiter der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, Bastian Fleermann, an die Landesregierung übergeben hat, ist klar: Der 9. November 1938 war kein nächtliches Ereignis, das am Morgen des 10. November endete, vor allem nicht in Düsseldorf.

Nach dem Attentat auf den Pariser Botschaftssekretär Ernst von Rath, das den Nazis als Anlass zur Auslösung des Pogroms diente, trumpfte der ebenso ehrgeizige wie skrupellose Düsseldorfer NSDAP-Gauleiter Friedrich Karl Florian (1894-1975) mit der frei erfundenen Behauptung auf, von Rath stamme aus Düsseldorf. Die Legende hatte Erfolg: Florian erhielt den Zuschlag, am 17. November reiste Hitler zum pompösen Staatsbegräbnis an. Am gleichen Tag, an dem der Sarg von Raths in Düsseldorf eintraf, wurden 97 jüdische Männer, die seit dem 9. und 10. November willkürlich eingesperrt waren, vom Hauptbahnhof aus in das KZ Dachau deportiert.

Dr. Max Eschelbacher (1880-1964) war Jurist und Rabbiner.

Dr. Max Eschelbacher (1880-1964) war Jurist und Rabbiner.

Foto: Mahn- und Gedenkstätte

Der Düsseldorfer Rabbiner Dr. Max Eschelbacher (1880-1964) überlebte die Pogromnacht in Düsseldorf und entging dem Transport. Nach der Verwüstung seiner Wohnung in der Nacht vom 9. zum 10. wurde Eschelbacher zwölf Tage im Düsseldorfer Polizeigefängnis in Haft gehalten. Ende Januar 1939 gelang ihm die Emigration nach England, wo er seinen Bericht über den Auftakt zur Vernichtung der europäischen Juden niederschrieb. Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge daraus:

Die Vorgeschichte

Die Pogromnacht endete nicht am Morgen des 10. November. Wohnungen und Geschäfte (hier: Immermannstraße) wurden mehrfach geplündert und verwüstet, 97 jüdische Männer wurden später in das KZ Dachau deportiert.

Die Pogromnacht endete nicht am Morgen des 10. November. Wohnungen und Geschäfte (hier: Immermannstraße) wurden mehrfach geplündert und verwüstet, 97 jüdische Männer wurden später in das KZ Dachau deportiert.

Foto: Stadtarchiv

„Der Pogrom vom 10. November 1938 war von langer Hand vorbereitet. Bei der Verkündigung der Nürnberger Gesetze im April 1935 erklärte Hitler, sie seien der Versuch einer säkularen Regelung der Beziehungen des deutschen Volkes zum jüdischen. Wenn es mißlinge, dann werde er die Frage der Partei übergeben. Diese dunkle Drohung schwebte über den deutschen Juden, bis sie am 10. November 1938 in die Wirklichkeit umgesetzt wurde.“

Der 28. Oktober 1938

„Um den 20. Oktober herum verbreiteten sich unbestimmte Gerüchte von einer einschneidenden Verfügung der polnischen Regierung. Sie habe vor wenigen Tagen verordnet, jeder polnische Staatsangehörige im Ausland müsse einen bestimmten Eintrag vorn polnischen Konsulat in seinem Paß haben. Nach Ablauf des 29. Oktober werde keiner mehr über die Grenzen gelassen, der nicht diesen Eintrag habe. (...) Am Donnerstag, 27. Oktober, abends 8 Uhr, rief Steinthai-Münster bei mir an, ein Mitglied seiner Gemeinde, polnischer Staatsangehöriger, sei zur Polizei geladen worden, und dort sei ihm eröffnet worden, er werde morgen, Freitag, nach Polen abtransportiert. Ich möge dafür sorgen, daß er morgen früh den polnischen Konsul in Düsseldorf sprechen könne. Freitag früh 7 Uhr rief Auerbach-Recklinghausen an, in seiner Gemeinde und in Bochum seien sämtliche Ostjuden verhaftet worden. Unmittelbar nachher erfuhr ich in der Synagoge, dass in Düsseldorf viele verhaftet worden seien.

In der Nacht, zwischen zwölf und sechs Uhr, war die Polizei in die Wohnungen der Ostjuden eingedrungen und hatte Männer, Frauen und Kinder fortgeführt. Sie hatten kaum Zeit, sich anzuziehen, sie konnten nur mitnehmen, was sie gerade zur Hand hatten und in ihrem Koffer oder einer Mappe unterbringen konnten. Dann waren sie zum Revier und von da in Autos zum Polizeipräsidium gebracht worden. Kein Alter war verschont. Das Kind von Kanarek, bei dessen Milah (Beschneidungsfest) ich zwei Monate vorher gewesen war, war ebenso verhaftet worden wie der bald achtzig Jahre alte Simon Wolf. Auf kein Leiden wurde Rücksicht genommen. Rosenbaum-Mettmann sind beide Beine amputiert. Trotzdem wurde er in seinem Fahrstuhl zum Präsidium gebracht. Es waren in Düsseldorf im ganzen 361 Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet worden. (...)

In dem Polizeigefängnis, in das ich und Felsenthai mit vielen Düsseldorfer Juden dreizehn Tage nachher selber eingeliefert wurden, herrschte kopflose, verzweifelte Verwirrung. Die Beamten hatten die Nerven verloren und schrieen einander an. Das Gefängnis ist nicht auf eine so große Zahl von Gefangenen eingerichtet und war überfüllt. In den großen Räumen im Souterrain drängten sich die Verhafteten an die Gitterfenster. In der zweiten und dritten Etage füllten sie die Korridore, Männer und Frauen aller Altersstufen, zusammengepfercht wie Raubtiere im Käfig. (...)

Die nächsten Tage verliefen in banger Sorge. Manche Transporte hatten in der Nacht zum 30. Oktober die polnische Grenze noch nicht erreicht und waren zurückgekommen. Aber die Düsseldorfer waren innerhalb der Frist angekommen und über die Grenze gebracht worden. Jetzt waren sie in dem furchtbaren Lager von Zbonczyn, dem einstigen Bentschen. (...)

Am Schabboss (Sabbat), 5. November, war ich in der Synagoge der Ostjuden in der Kreuzstraße. Der sonst überfüllte Raum war beinahe leer. Nur ein einzelner Mann lief im Tallis (Gebetsschal) herum, man mochte ihn für gestört halten. Nur wenige von der bisher zahlreichen Gemeinde waren außer ihm noch anwesend. Die geringen Hoffnungen auf Rückkehr der Verschickten wurden zwei Tage darauf durch das Attentat auf Herrn vom Rath in Paris noch vollends vernichtet. (...)“

Die Nacht des 9. November

„Wir kamen gegen 12 Uhr (Anm. d. Red.: in der Nacht) zurück. Kaum war ich da, als das Telefon läutete: Eine Stimme, die vor Entsetzen bebte, schrie: ,Herr Doktor, sie zertrümmern das Gemeindehaus und schlagen alles kurz und klein, sie schlagen die Menschen, wir hören ihr Schreien bis hierher’. Es war Frau Blurnenthal, die im Nachbarhause wohnte. Ich dachte in das Gemeindehaus zu gehen, obgleich ich dort nichts helfen konnte. Aber fast im gleichen Augenblick läutete es heftig an der Haustüre. Ich löschte die Lichter aus und sah hinaus. Der Platz vor dem Hause war schwarz von SA-Leuten. Im Augenblick waren sie oben und hatten die Flurtüre eingedrückt. Ich konnte nur sehen, dass das Treppenhaus voll von ihnen war, von Gemeinen und allerhand Vorgesetzten, kenntlich an ihren Mützen und Aufschlägen. Sie drangen in die Wohnung unter dem Chorus: ,Rache für Paris! Nieder mit den Juden!’ Sie zogen aus Beuteln Holzhämmer heraus und im nächsten Augenblick krachten die zerschlagenen Möbel und klirrten die Scheiben der Schränke und der Fenster. Auf mich drangen die Kerle mit geballten Fäusten ein, einer packte mich und schrie mich an, ich solle herunterkommen. Ich war überzeugt, dass ich totgeschlagen werde, ging ins Schlafzimmer, legte Uhr, Portemonnaie und Schlüssel ab und nahm Abschied von Berta. Sie sagte nur: ,Chasak!’ (hebräische Segensformel: ,Sei stark!’)

Wie ich die Treppe hinunter gekommen bin, weiß ich selber nicht. Man ist in solchen Augenblicken glücklicherweise so benommen, dass man kaum bemerkt, was um einen vorgeht. Daher rührt die Unerschrockenheit, die man in derartigen Augenblicken zu haben scheint. Wäre man mehr bei Bewusstsein, dann hätte man auch mehr Angst. Unten war die Straße voll von SA-Leuten. Es mögen im ganzen, mit denen im Hause, 50-60 Mann gewesen sein. Ich wurde mit dem Rufe empfangen: ,Jetzt predige mal.’ Ich fing an, vom Tod des Herrn vom Rath zu sprechen, dass seine Ermordung ein Unglück mehr für uns, als für das deutsche Volk sei, dass wir keine Schuld an seinem Tode tragen. Es entspann sich ein regelrechter Disput. ,Denkst du noch, wie du in der Tonhalle gehetzt hast, wie du über Religion und Judenhass geredet hast?’ Unser Hausmeister Sinn sagte mir, ein Mann sei hinter mir gestanden und habe mir mit einem Stuhlbein den Schädel einschlagen wollen, aber Walter habe ihn daran gehindert. (...)

Um die Ecke, in der Stromstraße, sah ich die Straße bedeckt mit Büchern, die aus meinem Fenster geworfen worden waren, mit Papieren, Akten, Briefen. Zertrümmert lag auf der Straße meine Schreibmaschine. Während sich das alles abspielte, waren die SA-Leute bei Wertheimers in der Etage unter uns eingedrungen, hatten dort sehr viel zerstört, Herrn Wertheimer und seine Frau aus dem Bett geholt und heruntergebracht. Ich selber wurde von einem SA-Mann gepackt und in einem großen Bogen über die Straße an das Haus geschleudert. Ein Nachbar, der Augenzeuge war, sagte mir nachher, das sei mehrmals geschehen. Ich wurde dann in den Hausgang geworfen und zwischen der Wand und dem Lift eingesperrt. Dann kam der Kreisleiter und sagte: ,Ich nehme Sie in Schutzhaft’.

Im Gefängnis

Nun begann der Marsch zum Polizeipräsidium. Ein Trupp SA-Leute zog vor uns. Dann kam ich, eskortiert von zweien. Dann wieder ein Trupp SA-Leute, so dann Herr Wertheimer, in gleicher Weise geleitet, dann durch einen weiteren Trupp SA-Leute von uns getrennt, Frau Wertheimer im Pyjama, und dann zum Schluss wieder eine Gruppe SA-Leute. Auf dem ganzen Weg sangen sie im Sprechchor: ,Rache für Paris. Nieder mit den Juden!’ Einer sagte mir: ,Jetzt könnt Ihr Laubhüttenfest feiern’, Passanten, die uns begegneten, stimmten auch ein: ,Rache für Paris! Nieder mit den Juden’. Etwa 12.20 kamen wir im Polizeipräsidium an, genau so, wie noch keine vierzehn Tage vorher die Ostjuden. (...) Ich bat, mir die Hosenträger zu lassen und sagte: ,Ich werde mich nicht aufhängen.’ Darauf sagte einer: ,Sehr entgegenkommend.’ Ein anderer sagte: ,Schade.’ Ein Dritter: ,Sie leben lieber?’ Ich sage: ,Ich habe gesagt, ich werde mich nicht aufhängen.’ Worauf ein SA-Mann sagte: ,Ihr Juden habt ja nichts, wofür es sich lohnt zu leben oder zu sterben.’ (...)

Mehrmals wachte ich in der Nacht von markdurchdringenden Schreien: ,Mutter! Mutter!’ auf. Ich dachte an alles, was mir Untersuchungsgefangene, namentlich politische, über die Prügel und Folterungen, die sie in diesem Hause durch die Gestapo erlitten, erzählt hatten. Es war kein Zweifel, dass hier Menschen geschlagen, vielleicht totgeschlagen worden waren. Am anderen Morgen, beim Waschen, hieß es dann jedesmal, es sei in der Nacht ein Häftling geisteskrank geworden und nach Grafenberg überführt worden. Niemand glaubte es. Jeder wusste, dass er in gleicher Weise geschlagen oder totgeschlagen werden könne, ohne dass ein Hahn danach krähte.“ (...)

Die Auswanderung

„Wir hatten den ganzen Irrweg durchzumachen, die täglichen Gänge zu den Behörden, dem Finanzamt, dem Steueramt, dem Passamt, der Devisenstelle, die Verhandlungen mit dem Spediteur. Wir sind von den Behörden „legal und auch illegal“ bis aufs Letzte ausgeraubt worden, und von Privaten sind wir ausgewuchert und bestohlen worden. Dagegen ließ sich nichts machen, es ist das allgemeine Schicksal aller Juden in Deutschland. Arm, ausgeraubt, heimatlos verließen wir am Abend des 26. Januar 1939 Düsseldorf. Unsere nächsten Freunde waren am Bahnhof. Es war uns gesagt worden, wer die Grenze überschreitet, empfindet zuerst nur das Gefühl einer unsagbaren Erleichterung. Uns ging es nicht so. Die letzte Kontrolle im Zug fand statt, ein SS Mann durchsuchte meine Brieftasche nach Devisen. Dann verließ, wenige Minuten nach 8 Uhr, der Zug den Bahnhof Emmerich und überschritt die holländische Grenze. Wir spürten nichts als die Gewissheit, dass wir die Heimat und alles, was wir geliebt hatten, verloren hatten, dass es keinen Rückweg mehr gab und dass nichts vor uns lag als eine dunkle Zukunft.“

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