Interview Früher war mehr Rücktritt

DÜSSELDORF · Interview: Politikwissenschaftler Frank Überall zum Beharrungsvermögen von Politikern, auch wenn sie besonders in der Kritik stehen.

 Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) lässt sich auch durch die für den Steuerzahler kostpielige  Maut-Affäre nicht erschüttern.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) lässt sich auch durch die für den Steuerzahler kostpielige  Maut-Affäre nicht erschüttern.

Foto: imago images/Christian Thiel/Christian Thiel via www.imago-images.de

Politik ist ein schwieriges Geschäft in diesen Tagen. Jede Entscheidung oder Nicht-Entscheidung führt zu heftiger Kritik in den sozialen Netzwerken und den traditionellen Medien. In der Maskenaffäre führte die berechtigte Empörung durchaus auch zu Rücktritten. Aber ansonsten kann man den Eindruck haben: Politiker haben ein zunehmend dickes Fell, wenn es um die Abwehr und das Aussitzen von Rücktrittsforderungen geht. Allen voran fällt einem da Andreas Scheuer ein. Trotz des den Steuerzahler etliche Millionen kostenden Maut-Desasters scheint die monatelange Kritik an dem Bundesverkehrsminister und CSU-Politiker abzuperlen.

In der Vergangenheit sind Minister schon aus ganz anderen Gründen zurückgetreten. Weil sie selbst Auslöser für Affären waren. Oder weil sie die Verantwortung für gar nicht persönlich begangene Fehler übernahmen, wie 1993 der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters nach einem desaströsen Sicherheitseinsatz. Ein anderer Innenminister, Gustav Heinemann (der spätere Bundespräsident), trat 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zurück. Und Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser Schnarrenberger entschied sich 1995 zu diesem Schritt, weil sie den großen Lauschangriff ablehnte.

Hat sich mittlerweile die Rücktrittskultur in der Politik geändert? Wir haben das Frank Überall gefragt. Der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands ist nicht nur beobachtender Journalist und Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Er ist auch Co-Autor des schon vor zehn Jahren erschienenen Buches „Endstation Rücktritt!? Warum deutsche Politiker einpacken“, hat sich also intensiv mit dem Phänomen befasst.

 ARCHIV - Frank Überall, Bundesvorsitzender des DJV (Deutscher Journalisten Verband), aufgenommen 26.04.2016 in der Bundesgeschäftsstelle der Interessenvertretung der Journalisten in Berlin.(zu dpa DJV-Chef Überall kritisiert «alternative Fakten» vom 23.01.2017) Foto: Michael Kappeler/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

ARCHIV - Frank Überall, Bundesvorsitzender des DJV (Deutscher Journalisten Verband), aufgenommen 26.04.2016 in der Bundesgeschäftsstelle der Interessenvertretung der Journalisten in Berlin.(zu dpa DJV-Chef Überall kritisiert «alternative Fakten» vom 23.01.2017) Foto: Michael Kappeler/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

Foto: Michael Kappeler

Herr Überall, täuscht der Eindruck, oder war früher mehr Rücktritt?

Frank Überall: Auch ich habe verfolgt, dass es in den letzten Monaten zwar viele Skandaldiskussionen gegeben hat, aber sich das tatsächlich nicht in Rücktritten niedergeschlagen hat. Das war früher anders.

Woran liegt das?

Überall: Zum einen ist das ausgelöst durch ein Verlottern der Sitten durch die AfD. Es gab immer wieder gezielte Grenzüberschreitungen. Mit der zunehmenden Häufigkeit wird dann auf die Dauer insgesamt die Aufmerksamkeitsschwelle gesenkt. Wenn ich jeden Tag mit irgendwelchen Skandalen konfrontiert bin, dann stumpft man ab, der Eindruck verstärkt sich, dass Politiker insgesamt auf ihren eigenen (auch ideologischen) Vorteil  bedacht sind. 

Und die Dauer-Skandalisierung macht dann auch etwas mit der Mentalität der Politiker?

Überall: Ja, aus so einer Dauerskandalisierung kann der einzelne Politiker oder die Politikerin eine Rechtfertigungsfolie für sich entwerfen. Gerade in der aktuellen Coronakrise sehen sich Politiker doch ständig mit harscher Kritik konfrontiert. Da kann sich auch mit Blick auf den Kritisierten das Instrument der Rücktrittsforderung abnutzen und dazu führen, dass seine moralischen Maßstäbe verwischen. Und dann geht einem Rücktritt ja immer auch noch eine Kosten-Nutzen-Analyse voraus.

Wie meinen Sie das?

Überall: Die den Politiker tragende Gruppierung, sei es die Partei, die Regierung oder auch die Koalition wägt ab, welchen Nutzen es bringt, an dieser Person festzuhalten. Und welche Kosten. Und da kommt im Augenblick vieles zusammen, was das Beharrungsvermögen stärkt: die Coronakrise, die anstehende Bundestagswahl mit der Erosion der bislang großen Parteien. In dieser Abwägung kommen die Verantwortlichen offenbar derzeit zu dem Schluss, dass das Festhalten an etablierten Politikern höher zu bewerten ist.  Außer es geht gar nicht mehr, wie in etwa in der Maskenaffäre.

Daher kann ein Mann wie der Bundesverkehrsminister die Sache aussitzen?

Überall: Hier sind die Kosten, ihn loszuwerden, vergleichsweise hoch. Er war Generalsekretär der CSU, einer Partei, die innerhalb der Union einen großen Einfluss hat. Und in dieser CSU ist Scheuer eng vernetzt. Da kann er Angriffe gut abwehren, durch Verweis darauf, dass Angriffe auf ihn auch bedeuten, dass man sich mit seiner Basis anlegt.

Und ist die Öffentlichkeit von dem teuren Mautdesaster vielleicht auch abgelenkt durch die Dauerkrise Corona?

Überall: Ja, das kann sein. In normalen Zeiten wäre die Debatte wohl intensiver geführt worden.

Da setzt sich also jemand mit dickem Fell und guter Vernetzung durch. Und bleibt am Ende im Amt. Er ist insoweit „erfolgreicher“ als etwa Politiker, die aus eigenem Verantwortungsgefühl zurückgetreten sind, wie Rudolf Seiters, Gustav Heinemann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder auch Willy Brandt?

Überall: Im Fall von Rudolf Seiters - damals ging es um die versuchte Festnahme des RAF-Terroristen Grams in Bad Kleinen, bei der ein Sicherheitsbeamter ums Leben kam und Grams sich erschoss - trat der Minister ja wegen seiner Organisationsverantwortung zurück. Da hätte man auch argumentieren können, dass er im Amt bleibt und die Fehler aufarbeitet.

Haben denn Politiker, die aus Gewissensgründen zurückgetreten sind (Heinemann, Leutheusser-Schnarrenberger) ihrer Sache einen Dienst erwiesen?

Überall: Solche Rücktritte waren oder sind mit einer klaren politischen Haltung verbunden. Auch da muss man sich natürlich immer fragen, wie sinnvoll das für die Betroffenen und ihr Anliegen ist. In dem Moment, wo sie das Amt verlassen, haben sie ja auch weniger Einfluss auf die Politik. So war das auch bei Oskar Lafontaine. Es gibt einen großen Knall, aber dann wird die Position des Zurücktretenden nicht mehr vertreten.

Hat die „Standfestigkeit“ der Politiker vielleicht auch etwas damit zu tun, dass der öffentliche Druck der Medien abnimmt, weil der öffentliche Einfluss durch die Sozialen Medien mehr fragmentiert ist.

Überall: Das glaube ich nicht. Zwar werden soziale Netzwerke intensiv genutzt. Die traditionellen Massenmedien sorgen aber weiterhin für den öffentlichen Diskurs, für den Rohstoff an Information und auch die Einordnung. Dass der Druck auf die Politiker schwächer wird, könnte allenfalls daran liegen, dass manche Medien den sozialen Netzwerken in der ständigen Skandalisierung und auch den stündlichen Rücktrittsforderungen hinterherlaufen und so zur Abstumpfung beitragen. Das verwässert dann die Diskussion bei tatsächlichen Verfehlungen.

Und dann nehmen die Politiker bei dem medialen Dauerfeuer die einzelne Rücktrittsforderung nicht mehr ernst?

Überall: In der Tat, das kann die Folge sein. Dass dann eine emotionale Hornhaut entsteht. Für Politiker ist es schwierig, sich einerseits von den Trollen im Internet nicht wild machen zu lassen, andererseits aber berechtigte Kritik auch anzunehmen und zu diskutieren.

Verstärkt die derzeitige Krisensituation die Sache?

Überall: Ja, die Politiker stehen durch die ständigen Beschimpfungen in den sozialen Netzwerken und die besonderen Herausforderungen an ihren Job im Moment unter großem Druck. Und das Nachrichtengeschäft ist immer schneller geworden. Die Berliner Republik ist auch zu einer aufgeheizteren Nachrichtenrepublik geworden. Von Konrad Adenauer erzählt man sich, er habe noch einen Mittagsschlaf gemacht. Was heute undenkbar wäre. Es ist weniger Zeit für die Politiker zum Nachdenken über den Tag hinaus. Bis hin zur Selbstreflexion: Wann ist der Punkt, wo ich entweder im Sinne der eigenen Sache mit Rücktritt drohen muss oder selbst aus der Tretmühle herausgehe.

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