Schutz für Kinder — und vor ihnen

Wenn Kinder aus ihren Familien genommen werden, liegt oft eine lange Krisengeschichte hinter ihnen.

Schutz für Kinder — und vor ihnen
Foto: Lothar Berns

Neuss. Es ist eskaliert. Sie mussten raus, zu ihrer eigenen und manchmal auch zur Sicherheit ihrer Eltern. Die Kinder und Jugendlichen, die von Neuss in eine der sechs Schutzstellengruppen der evangelischen Jugend- und Familienhilfe kommen, haben meist eine lange Krisengeschichte hinter sich.

Die evangelische Jugend- und Familienhilfe mit Sitz in Kaarst ist Kooperationspartner des Jugendamtes Neuss bei der Inobhutnahme von Kindern. Im vergangenen Jahr hat die Einrichtung 141 Kinder aus Neusser Familien aufgenommen — 2010 waren es noch 104 Fälle. Den größten Anteil machen dabei die 13- bis 18-Jährigen aus, es betrifft in etwa gleich viele Jungen wie Mädchen. Bundesweit ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vor allem die Überforderung der Eltern ein Grund. Die Inobhutnahmen aus Neuss spiegeln viele gesellschaftliche Entwicklungen wieder.

Zum Beispiel haben nahezu alle Einzelfälle eines gemeinsam: Eltern schaffen es immer weniger, ihren Kindern Grenzen zu setzen. Die Überforderung ist also auch in Neuss ein großes Thema: „Es macht den Anschein, dass viele Eltern Schwierigkeiten haben, ihren Kindern Strukturen und eine Orientierung zu geben“, erklärt Detlef Wiecha, Geschäftsführer der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe gGmbh. Die Kinder sind oft sich selbst überlassen, haben keinen geregelten Tagesablauf.

In den vergangenen Jahren beobachtet die Einrichtung verstärkt, dass Kinder aus verwahrlosten Wohnungen ihrer psychisch kranken Eltern geholt werden. Die Schutzgruppen nehmen unter anderem Opfer psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt auf.

Allerdings nehmen auch die Fälle zu, in denen die Kinder oder Jugendlichen selbst zu Tätern werden. Früher musste man eher die Kinder vor den Eltern schützen, heute hat sich das gedreht. „Das ist natürlich plakativ ausgedrückt“, sagt Wiecha. „Denn das Erziehungsverhalten der Eltern unterstützt in vielen Familien eine gewalttätige Entwicklung des Kindes.“

Denn auch die „Täter“ sind früher in der Regel zunächst selbst Opfer gewesen. Rund 44 Prozent der Kinder werden gegenüber ihren Eltern gewalttätig. Darin drückt sich die angespannte Familiensituation aus. Das ist bereits der zweithäufigste Grund bei den Inobhutnahmen. „Die Familie kreist um sich selber. Wird das Kind aus der Situation herausgenommen, gibt es sofort eine Entspannung“, sagt Wiecha.

Eine weitere gesellschaftliche Entwicklung kommt zeitverzögert an: In NRW wurden im Jahr 2014 nach Angaben des Statistischen Landesamtes 39 489 Ehen geschieden. Zwar ist ein Trend erkennbar, dass weniger Ehen als vor einigen Jahren geschieden werden. Aber: „Fast 50 Prozent der Kinder, die wir in Obhut nehmen, leben nicht mehr in ihrer Ursprungsfamilie. Für die Kinder ist das oftmals ein Riesenthema. Auch Jahre später gibt es da noch massive Konflikte“, erklärt Wiecha. Auch die Drogentrends spiegeln sich bei den Inobhutnahmen zeitverzögert wieder: Zum Beispiel gab es ein Jahr, in dem die Mitarbeiter der Schutzstellengruppen häufiger mit Jugendlichen zu tun hatten, die sich Deospray in den Rachen sprühten. „Das hat massive Auswirkungen auf das Gehirn“, sagt Wiecha. Akute Fälle werden aber nicht in den Gruppen, sondern im Krankenhaus oder der Psychiatrie behandelt.

Eine gute Nachricht hat der Geschäftsführer: Die Gesellschaft ist wachsamer geworden. Seit einigen Jahren melden sich Erzieher, Nachbarn oder Ärzte früher, wenn sie das Wohl des Kindes in Gefahr sehen. „Da ist eine deutliche Veränderung festzustellen. Die Öffentlichkeit hat eine Wachsamkeit entwickelt“, sagt Wiecha.

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