Obdachlose in Neuss: Wenn das Betteln zur Qual wird

Die Kälte ist vor allem für Obdachlose eine Plage. Auch Dietlinde (61) sitzt oft stundenlang im Freien.

Neuss. Gefragt ist jetzt eine heiße Kochstelle. Sie darf vier Buchstaben lang sein, was Dietlinde vor kein wirkliches Problem stellt. "Herd" notiert sie nach kurzer Überlegung in ihr Kreuzworträtselheft. Die Frage findet sie fast zu simpel. "Ich bin doch nicht blöd, nur weil ich auf der Straße um Geld bitte. Ich habe Einzelhandelskauffrau gelernt", sagt die 61-Jährige und zieht die Kapuze ihrer blauen Winterjacke tiefer ins Gesicht. Bei Minusgraden wird das Betteln zur Qual.

Dietlinde schreibt langsam. Ihre Hand zittert dabei. "So vertreibe ich mir die Zeit", berichtet sie. Jeden Tag sitzt sie in der Neusser Innenstadt und bettelt. Fast immer gegenüber der Buchhandlung. "Aber erst ab dem Vormittag. Erst dann kann ich Platte machen, denn ich komme aus Köln. Dort lebe ich in einer Einzimmerwohnung."

In Köln zu betteln habe sie Angst. "Davor, dass mich Leute wiedererkennen und aus der Wohnung werfen", sagt sie. Außerdem habe sie Angst, vertrieben oder geschlagen zu werden. In Nürnberg sei ihr das passiert.

"Wer bettelt ist vogelfrei, um den kümmert sich niemand, der hat keine Rechte, wird geächtet. Knapp 500 Euro Witwenrente bekommt sie im Monat. Aber da sie chronisch krank sei, brauche sie viele Medikamente.

"Die kosten Geld und lassen kaum noch was zum Leben. Krankenversichert bin ich nicht. Also muss ich hier sitzen." Sie sagt das so, als gebe es nichts Normaleres, als bei minus fünf Grad auf dem eisigen Boden ein Kreuzworträtsel zu lösen.

Dietlinde trägt drei Pullis und eine blaue Winterjacke. Doch sie friert. Auch an den Füßen, trotz ihrer dicken Moonboots. Ihre Hände können den Stift kaum noch halten, sie muss das Rätsel abbrechen und das, obwohl ihr eine freundliche Passantin vor ein paar Wochen Fleecehandschuhe überließ. Doch solche Geschenke sind selten. Täglich wird sie beschimpft, missachtet und verjagt, sagt sie.

Drei Jahre war Dietlinde verheiratet. "Die schönsten Jahre meines Lebens waren das", sagt sie. Für ihren Mann habe sie ihren Job geschmissen, doch als er starb, geriet ihr Leben vor sechs Jahren aus den Angeln. "Seine Familie hat mich gehasst. Nicht mal meinen Pflichtteil hab ich bekommen. Die haben mich aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Seitdem habe ich nichts mehr", sagt sie.

"Ich hab noch einen Sohn. Der hat es endlich geschafft, ’ne Ausbildung zu bekommen - bei Daimler", erzählt sie. Doch über ihn möchte sie nicht sprechen, obwohl sie stolz auf ihn sei. "Doch er möchte nichts mit mir zu tun haben. Wer ist schon stolz auf eine Mutter, die bettelt?"

"Wirklich gesprochen hat in den vergangenen vier Tagen keiner mit mir. Niemand, der fragt, warum ich hier sitze, wie es mir geht." Das macht sie traurig. "An Nächstenliebe glaube ich nicht mehr..."

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