Neuss: Auf der Straße lebt keiner

Obdachlos: Am Derendorfweg sind bei Frost alle Betten belegt.

Neuss. Von außen sieht die städtische Obdachlosenunterkunft für Männer am Derendorfweg nicht einladend aus: Rundherum eingezäunt ist das Gelände, die zwei dunkelroten, langgezogenen Holzgebäude erinnern an ein schwedisches Farmhaus, das seine besten Zeiten schon hinter sich hat.

Auch viele der Menschen, die ab 20 Uhr herkommen, um nicht im Freien schlafen zu müssen, haben ihre besten Zeiten schon hinter sich, und manche haben gute Zeiten nie erlebt. "Häufig gibt es Alkohol-, Medikamenten- oder Drogensüchtige, gescheiterte Persönlichkeiten, die nach Trennung und Arbeitslosigkeit abgerutscht sind", berichtet Sozialarbeiter Ernst Goertz. Auch psychische Probleme sind weit verbreitet.

Die Unterkunft ist schlicht, aber kostenlos und für jeden, der sie benötigt. Manche Besucher sind auf der Durchreise und bleiben nur eine Nacht, andere brauchen länger, bis sie eine neue Bleibe gefunden haben: "Einer ist schon über zwei Jahre bei uns", sagt Goertz.

Meist ist es schwierig, eine Wohnung zu finden. Vermieter haben Angst vor finanziellen Einbußen, vor Ärger. Die Einrichtung hilft, es sollen möglichst keine Betten dauerhaft belegt sein.

20 Betten gibt es, bei Minustemperaturen wie jetzt sind sie schnell belegt. "Wenn mehr Leute da sind, legen wir Matratzen in den Flur", berichtet der Sozialarbeiter. Frauen, die selten kommen, schickt er ins Hotel.

In dem von der Caritas betriebenen Café Ausblick auf der Breite Straße ist im Winter weniger los. "Viele schaffen es bei diesem Wetter nicht zu uns", sagt Hermann Fabry, der als einer von vier Sozialarbeitern eine Etage über dem Café beim Beantragen von Hartz IV hilft, den Kontakt zu anderen Hilfsorganisationen vermittelt oder auch mal einfach nur zuhört. Alle zwei Woche ist er auch mal als Streetworker unterwegs, aber: "Die Szene hat sich in den letzten Jahren verändert. In Neuss ist uns niemand bekannt, der tatsächlich auf der Straße wohnt."

Nicht alle Gäste im Café Ausblick sind wohnungslos, viele kommen, um günstig zu essen und nicht allein zuhause sitzen zu müssen. "Wir kennen uns alle untereinander", sagt eine jung gebliebene 61-Jährige, die seit sieben Jahren herkommt. Drei Kinder hat sie großgezogen, einen Beruf nie gelernt. Die Sozialarbeiter helfen, "wenn ich mal Briefe schreiben muss oder sowas."

"Solche Einrichtungen wie die hier sind unheimlich wertvoll", sagt ein Mann, der gerade die Tagesportion - Bratkartoffeln, Leberkäse und Ei für 1,50 Euro - verspeist hat. Sieben Mal wurde die Firma verkauft, in der er es bis zum Warenbereichsleiter geschafft hatte. Dann wurden er und seine Kollegen entlassen: "21 Jahre habe ich da gearbeitet." Mit 47 Jahren sei er nun zu alt, hörte er bei seinen Bewerbungen. Er konnte sich nicht überwinden, Arbeitslosengeld zu beantragen. Mehrere Menschen, die ihm wichtig waren, starben, er wurde krank. "Irgendwann bin ich dann auf der Straße zusammengebrochen." Im Café Ausblick fand er wieder Halt. Bewerbungen will er weiter schreiben. Obwohl schon 174 erfolglos blieben.

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