Ein Jahr nach dem Mord im Jobcenter: „Es ist lange nicht vorbei“

Vor einem Jahr erstach ein Arbeitsloser eine Sachbearbeiterin im Neusser Jobcenter. Der Mord verunsicherte viele Beschäftigte in den Behörden.

Düsseldorf. Die Kollegen von Irene N. treffen sich am Jahrestag zu einem Gedenkgottesdienst und möchten dabei unter sich bleiben. Am Donnerstag vor einem Jahr fiel die beliebte Kollegin im Neusser Jobcenter einer brutalen Attacke zum Opfer. Ahmed S. hatte morgens zwei Messer eingepackt und eine Sachbearbeiterin heimgesucht. Weil der Arbeitslose, des Lesens und Schreibens kaum mächtig, eine Datenschutzerklärung missverstand, musste die 32-Jährige sterben.

Inzwischen ist S. vom Düsseldorfer Landgericht wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Doch in den Jobcentern fällt vielen die Rückkehr zur Normalität schwer. „Es ist ein Jahr her, aber noch lange nicht vorbei“, sagt Werner Marquis, Sprecher der Bundesarbeitsagentur für Nordrhein-Westfalen.

Der Mord an der jungen Mutter war der bisherige Tiefpunkt einer Reihe von Zwischenfällen. Personalräte und Jobcenterleiter hatten danach den Finger in die Wunde gelegt und auf die brisante Situation in den Behörden hingewiesen. Aggressionen und Gewalt seien an der Tagesordnung. Bundesweit kam die Sicherheit sämtlicher Jobcenter auf den Prüfstand.

Gefahren wurden analysiert und — von Haus zu Haus verschieden — eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen. Zugangs- und Leitsysteme wurden verändert, Fluchttüren eingebaut, Alarmsysteme verbessert, Türklinken durch Knäufe ersetzt, Büromöbel verrückt, zusätzliches Sicherheitspersonal eingestellt. „Da ist eine Menge passiert“, sagt Marquis. Von den heiß diskutierten Sicherheitsschleusen an den Eingängen habe man allerdings Abstand genommen. Ihr Einbau sei vielerorts nicht praktikabel gewesen. Der Aufwand soll dennoch in die Millionen gehen.

Die Jobcenter sind für die Betreuung der arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen („Hartz IV“) zuständig. Etwa 90 Prozent der Betroffenen wurden früher von den Sozialämtern betreut. Die Klientel gilt als schwierig, etwa jeder fünfte „Kunde“ sei psychisch auffällig, 80 Prozent hätten keine Berufsausbildung, berichten Personalräte. Viele der Hilfesuchenden seien mit der Bürokratie überfordert.

Letzteres traf auch auf Ahmed S. zu. Der Marokkaner hatte in seiner Heimat neben der Koranschule nur drei Jahre eine richtige Schule besuchen können. Mit einem Intelligenzquotienten von 74 wies er zudem ein erhebliches geistiges Defizit auf, wurde aber dennoch als voll schuldfähig eingestuft.

Der fünffache Vater hatte der Behörde unterstellt, illegalen Handel mit seinen persönlichen Daten zu treiben. Eine Fernsehsendung hatte seinen Argwohn geweckt. Dabei hatte das vermeintlich verdächtige Formular nur die Weitergabe der notwendigen Daten an potenzielle Arbeitgeber geregelt.

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