Ein Arbeitsleben ohne festen Boden

Richard Kruisinga befördert auf seiner „Duricha“ Fracht. Container lädt er auch in Neuss.

Neuss. Richard Kruisinga kniet vor seinem kaputten Computer. Seine Freundin Lisette schmiert Brote in der Küche. Töchterchen Carmen macht ein Puzzle, das Baby schläft. Ganz normal. Wenn da nicht manchmal die Erde beben würde. Die holländische Familie hat keinen festen Boden unter den Füßen — sie lebt auf einem Binnenschiff.

Der Blick aus dem Fenster fällt auf einen riesigen Schienenkran, der vom Kai des Neusser Hafens aus Container aufs Deck hebt. Jedes Mal, wenn er einen der Stahlbehälter absetzt, erzittert das ganze 135 Meter lange Schiff. Die Familie merkt das nicht. Auch den Motorengeruch, der sich beim Anlassen der Maschinen in die Luft legt, nimmt sie nicht wahr. „Wir sind zu sehr dran gewöhnt“, sagt Lisette.

Im Steuerhaus lässt sich Richard Kruisinga in den großen Ledersessel sinken, von dem aus man das ganze Schiff überblicken kann. Ringsum leuchten Apparaturen und Bildschirme wie im Flugzeug-Cockpit. Kameras zeigen das Schiff von allen Seiten, ein Navigationssystem weist den Weg, das Radarbild bietet Orientierung bei Nacht und Nebel. Ständig misst ein Tiefganganzeiger den Abstand zum Boden. Aus dem Steuerrad ist ein Hebel geworden, nicht größer als ein Telefonhörer. Und auch der Anker muss nicht mehr eingeholt werden: Das Schiff steht auf Stelzenbeinen, die auf Knopfdruck eingefahren werden.

Und dann fährt die „Duricha“. Der Wasserweg verbreitert sich, das Schiff fädelt sich in den dichten Verkehr auf dem Rhein ein. Zu beiden Seiten liegen Kies- und Sandufer, an diesen schönen Abenden sieht man dort die Leute grillen. Das mag Richard Kruisinga am liebsten, in solchen Momenten sei er glücklich, sagt er. Gemächlich ziehen andere Frachter vorbei. Die kennt er alle. „Als ich noch so klein war“, sagt er und zeigt mit der Hand etwa Tischhöhe an, „konnte ich schon kilometerweit erkennen, welches Schiff da auf uns zukam.“

Das Baby wacht auf. Es ist acht Monate alt und heißt Loreley. „Freunde in Holland fanden den Namen schön, aber in der Schifferswelt gab es Stirnrunzeln“, sagt Lisette: „Die denken an die Schiffsunglücke in letzter Zeit.“

Die Wohnung unter Deck ist 156 Quadratmeter groß. Nirgendwo muss man den Kopf einziehen oder sich in eine Koje zwängen. Auch der Steuermann und zwei Matrosen haben eigene Wohnungen. Das Schiff ist eine Millioneninvestition, und trotz seiner erst 30 Jahre ist Richard Miteigentümer. Seine Familie befährt den Rhein in dritter Generation, er selbst ist auf dem Fluss aufgewachsen.

Mit sechs Jahren kam er auf ein Internat für Schifferkinder. Am Wochenende fuhr er per Zug zu seinen Eltern oder wurde von ihnen mit dem Auto abgeholt, je nachdem, wo das Schiff gerade lag. Das freie Leben ist es, das ihn anzieht: Fast alle Binnenschiffer sind selbstständig.

Lisette Booij, ebenfalls 30, kommt auch aus einer Familie von Schiffern. Doch ein Leben nur als Kapitänsfrau kann sie sich nicht vorstellen, sie hat einen Teilzeitjob als Pressesprecherin. Deshalb sieht man sich oft nur am Wochenende.

Die Skyline von Düsseldorf taucht auf. „Schöner als Köln“, findet Richard. Hier werden noch einmal 78 Container geladen, insgesamt fasst das Schiff 421. Spielzeug, Bierflaschen, Autoteile und Chemikalien sind darunter. Am Abend geht es weiter nach Krefeld und in der Nacht nach Duisburg, dann Richtung Antwerpen und von dort über einen Kanal nach Rotterdam. Es ist ein Leben, das nie stillsteht und sich doch ständig wiederholt.

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