Proteste in Dormagen Es geht um Politik, nicht um die Sache

Analyse | Dormagen. · Analyse Bei der Demonstration in der Innenstadt und auf dem Schützenplatz ging es nur vordergründig um das Kindeswohl. Es war ein Angriff auf die Glaubwürdigkeit von Behörden in Deutschland.

 Demonstration in Dormagen zum Thema „Kindeswohl“

Demonstration in Dormagen zum Thema „Kindeswohl“

Foto: NGZ

Mehr als tausend Menschen sind am vorvergangenen Sonntag skandierend über die Kölner Straße bis zum Schützenplatz gezogen. Für die Teilnahme ist zuvor in sozialen Netzwerken kräftig geworben worden und viele, meist mit türkischen Wurzeln, kamen zum Teil von weiter her nach Dormagen. Die Initiatoren hatten im Vorfeld angeben, dass es ihnen ums Kindeswohl gehe. Diese Absicht führte dann unter anderem zu einem plakativen Motto wie „Gegen Kinderklau“. Kinderklau in Dormagen? In Deutschland? Durch staatliche Behörden?

Auslöser war die Inobhutnahme von zwei kleinen Kindern aus einer Familie in Hackenbroich im Juni. Eine Krankenhaus-Ärztin in Köln hatte die Behörden informiert, nachdem sie bei dem jüngeren Kind einen Spiralbruch im Oberarm diagnostiziert hatte. Es steht der Verdacht von Kindesmisshandlung im Raum. Nach Angaben des Vaters kam es später im Rahmen einer therapeutischen Behandlung zur Aussage des älteren Kindes, wonach es zu Hause Gewalt gegeben habe. Es erfolgte die Herausnahme beider Kinder zu Pflegeeltern und später eine Verhandlung vor dem Familiengericht. So weit der rudimentäre Sachverhalt. Denn was das Familiengericht beschlossen hat, ist nicht öffentlich. Was folgte, war eine immense Aufmerksamkeit für diesen Fall in sozialen Netzwerken, der es sogar bis in einen der beliebtesten Fernsehsender in der Türkei schaffte. Damit nicht genug: Der türkische Außenminister sprach öffentlich den Fall an.

Demonstranten mit Generalkritik an deutschen Behörden

Dass die Herausnahme von Kindern aus einer Familie generell zu einer juristischen Auseinandersetzung führen kann, ist nicht ungewöhnlich und ist Teil der deutschen Rechtsstaatlichkeit. Als völlig ungewöhnlich und überzogen erscheint daher das, was sich mit Demo, Aufregung und Beschuldigungen im Internet abspielt. Der aktuelle Fall wird derzeit von offenbar interessierten Kreisen für eine Generalkritik an deutschen Jugendämtern und Behörden insgesamt genutzt und somit politisch missbraucht. Auf Türkisch werden „Ankara“ und „Erdogan“ um Hilfe gerufen. In der Ansprache auf dem Rathausplatz forderten die Initiatoren die Bundeskanzlerin auf, „Familien zu retten“. Es wurde der Eindruck vermittelt: In Deutschland herrsche Willkür, wenn es um die Inobhutnahme von Kindern geht und vor allem wenn Familien mit türkischen Wurzeln betroffen sind. Mit pauschalen Aussagen wurde so auf dem Rathaus- und Schützenplatz Stimmung gemacht: „Wir erheben gemeinsam unsere Stimmen gegen rechtswidrige, blinde, zu schnell entschiedene Inobhutnahme von Kindern aus Familien, wo keine Notwendigkeit besteht“. Oder: „Es wird Eltern Gewalt, Missbrauch, Kindeswohlgefährdung vorgeworfen. Es ist paradox, denn die Willkür der Behörden gefährdet an erster Stelle das Kind, seine Psyche und seine Bindungen zu den Eltern.“

Abgesehen davon, dass dies Unfug ist: Was hat das mit Dormagen zu tun? Wenig. Natürlich gibt es Fälle, in denen Jugendämter in Deutschland zu schnell, aber auch zu spät handeln und Kinder zu Schaden kommen. In Dormagen ist so etwas in den vergangenen Jahren nicht öffentlich geworden. Vielleicht ein Ergebnis des „Dormagener Modells“, das jedoch vermutlich nur die allerwenigsten der Demo-Teilnehmer kennen dürften. Für sie sei es kurz erklärt: Dieses Modell wurde 2006 unter Federführung des damaligen Bürgermeisters und heutigen Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes Heinz Hilgers entwickelt. Dabei handelt es sich in der ursprünglichen Form um ein Projekt zur Prävention von Gewalt in der Familie und von Kindesmissbrauch. Dieses Modell sorgte in den vergangenen Jahren bundesweit für Aufsehen und wurde beispielgebend für viele andere Kommunen.

Solche Feinheiten haben selten Platz auf Demonstrationen, vor allem, wenn es letztlich um politische Botschaften und nicht um die Sache selbst geht.

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